Kategorie: Sozialphilosophie

„Partisan der Geistesfreiheit“

Zum Gedenken an Ernst Topitsch

Während einer durchschnittlichen Studiendauer an öffentlichen Bildungseinrichtungen ist man einigen Einflüssen, positiven wie negativen, ausgesetzt, die auch später noch, wenn man diese Institute schon lange verlassen hat, in einem nachklingen. Zumindest dann, wenn man es geschafft hat, sich wenigstens eine geringe Portion von Selbstreflexion anzutrainieren. Einer dieser ganz gravierenden, um nicht zu sagen prägenden Einflüsse, die meine Gedanken bis heute nachhaltig und wie ich meine positiv beeinflussen, verdanke ich Karl Acham, den ich an der Karl-Franzens-Universität in Graz, am Institut für Soziologie, als Lehrer erleben durfte. Seine Scharfsichtigkeit und ungetrübte Kritikfähigkeit gründeten und gründen sich auf ein unerschütterliches Fundament, das man im positivst – humanistischen Sinn als „umfassende Bildung“ bezeichnen kann. So es jemals so etwas gegeben haben mag, was Karl Mannheim als „freischwebende Intelligenz“ bezeichnet hat, so träfe das für die Geisteshaltung Karl Achams wohl ebenso zu, wie es für Ernst Topitsch – um den es im Folgenden gehen wird – zu behaupten angebracht wäre.

Es war ein Glücksmoment, der mir – wenn ich mich richtig erinnere – im Jahr 2013 beim Durchstöbern der Online-Ausgabe der Wiener Zeitung einen Artikel Karl Achams zur Kenntnis brachte, der dem Andenken eines bedeutenden Philosophen, der zudem an der Grazer Universität wirkte, gewidmet war. Es geht um einen außerordentlichen und äußerst umstrittenen Mann, dessen Bücher jedem kritischen Geist für das eigene Wachstum reichlich Nahrung bescheren. Da meine persönlichen Begegnungen mit dem hier Vorgestellten, tatsächlich nur „Begegnungen“ im wahrsten Sinn des Wortes: solche im Vorübergehen waren, ich durfte ihn leider nie als Lehrer erleben, beschränke ich mich darauf, einige Gedanken aus Karl Achams Text – wenn auch verkürzt und weniger elegant, als er es zu formulieren wusste, aufzunehmen und darzustellen.

Ernst Topitsch, um den es hier gehen soll, war ein international anerkannter Geistes- und Sozialwissenschaftler, der von verschiedensten weltanschaulich-politischen Lagern negativ (und damit wohl auch höchstwahrscheinlich grundfalsch) beurteilt wurde. Einmal galt Topitsch seinen Gegnern als „gefährlicher Marxist“, wie der katholische Existenzphilosoph Gabriel Marcel bei den Alpacher Hochschulwochen 1957 meinte, dann stand er den einen zu „rechts“, (vielleicht deswegen, weil er auch in der „Aula“ publizierte, siehe Wikipedia) dann war er bloß zu konservativ. Während die einen ihn für einen Marxisten hielten, wurde er von sowjetischer Seite als „feiger Nihilist des heroischen Positivismus“ bezeichnet. Zur Zeit der sogenannten Studentenrevolte hielt man ihn für „reaktionär“, und nicht zuletzt fand er auch noch Eingang in das „Handbuch Rechtsextremismus 1993“. „Es waren wohl die Blockwarte der geistigen Observanz, die ihm nicht nur zuwider, sondern auch so zugetan waren, dass er 1995, im Zusammenhang mit den Brief- und Rohrbombenattentaten der später als Franz Fuchs enttarnten „Bajuwarischen Befreiungsarmee“, eine polizeiliche Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen musste.“, schreibt Karl Acham, unter dem Titel “Partisan der Geistesfreiheit“ in seinem Aufsatz.

Diese Angriffe, die Topitsch von allen Seiten bedrängten, machen ihn für mich nicht nur interessant, sondern sogar liebenswert. Insofern fühle ich eine geistige Verwandtschaft zu ihm, ohne mich vergleichen zu wollen, Topitsch war ein brillanter Denker und ein Wissenschaftler von internationalem Rang. Er veröffentlichte 14 Bücher und rund 150 Aufsätze.

Besonders eindrücklich die Sammlung „Studien zur Weltanschauungsanalyse“ (1996). Er selbst hielt die letzte Version seines Buches „Erkenntnis und Illusion“ (1988) für seine bedeutsamste Publikation; für andere liegen seine Stärken eher in der Sozialphilosophie (siehe „Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft“, 1971) und Ideologiekritik (Gottwerdung und Revolution“, 1973).

Acham meint, Topitsch sei nach eigenem Bekunden besonders durch die Schriften und geistigen Haltungen von Thukydides, David Hume, Vilfredo Pareto und Max Weber beeinflusst gewesen. Wegweisend seien für ihn auch Freuds Analysen von Kultur und Religion so wie die Beschäftigung mit dem Logischen Empirismus und der genetischen Erkenntnistheorie von Konrad Lorenz.

Vor allem seine Arbeiten in den frühen 1950er Jahren über das Naturrecht und den Historismus haben Topitsch in heftige Diskussionen verstrickt.

So bedienen sich, wie Topitsch in seinem berühmten Aufsatz „Über Leerformeln“ (1960) etwa am Begriff „Dialektik“ oder „Ganzheit“ zeigt, mehrere einander bekämpfende Gruppen sogar der gleichen Prestigewörter, welche dann oft, gemeinsam mit pseudotheoretischen Erklärungen, eine bedeutende Rolle im politischen Leben zukommt. Das begrifflich und theoretisch vielfach unbestimmte Schrifttum von Hegel wird dabei von ihm gleichermßen kritisch in Betracht gezogen wie einige hochgradig alerte Wendungen bei Karl Marx, Ernst Bloch, Jürgen Habermas und Carl Schmitt,[…].“

Vor allem eine seiner letzten Publikationen „Stalins Krieg“ (1985, 1998), in der Topitsch darstellte, dass es sich im Jahr 1941 um einen Zusammenprall zweier Stoßrichtungen totalitärer Eroberungspolitik handelte, wobei der eine Aggressor dem anderen um eine nicht sehr große Zeitdifferenz zuvorgekommen ist, hatte „statt ernsthafter Diskussion oft nur höhnische und auch hasserfüllte Reaktionen zur Folge. […] Diese Darstellung der Sachlage kommt in den Augen bestimmter Vertreter der Zeitgeschichteforschung geradezu einem Sakrileg gleich.

Das Abweichen seiner Forschungsergebnisse vom „historischen Grundkonsenstrug maßgeblich dazu bei, dass Topitsch einen Teil seiner Publikationsmöglichkeiten verlor. Topitsch blieb sich aber dennoch treu und „sah es als eine Sache der intellektuellen Redlichkeit an, „die Illusionisten aufzuklären, die Hypokriten zu entlarven, die präsumptiven Opfer zu warnen und so die Freiheit zu schützen.“

Es ist für jeden kritischen Geist überaus lohnend, so sei abschließend festgehalten, sich intensiv und ernsthaft mit den Forschungsergebnissen von Ernst Topitsch zu beschäftigen; man muss ihm ja nicht überall kritiklos zustimmen, was ihm auch nie gefallen hätte; aber einen offenen Geist vorausgesetzt, wird man dabei in jedem Fall eine Fülle von Erkenntnissen gewinnen, die das eigene Bild ungemein zu bereichern im Stande sind. Als mein Lieblingsbuch darf ich „Überprüfbarkeit und Beliebigkeit, Die beiden letzten Abhandlungen des Autors“, Herausgegeben von Karl Acham, Böhlau, 2005, empfehlen. Keinesfalls sollte man sich leichtfertig und ohne sich ein eigenes Bild zu machen, jenen Meinungen anschließen, die Ihn als „Rechtsextremisten“ abstempeln, um sich nicht mit seinen Thesen auseinandersetzen zu müssen. Das wird weder seinen Leistungen gerecht, noch dem, was man als Versuch einer objektiven Wissenschaftlichkeit im Sinne Max Webers verstehen sollte.

PS.: Die kursiv gestellten Textteile sind Zitate aus dem oben erwähnten Aufsatz von Karl Acham, seit 2008 emeritiert, er lehrte Soziologie und Philosophie an der Univ. Graz, hatte zahlreiche Gastprofessuren im Ausland und ist Träger des Österr. Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst

Bassano – schlaflos unter dem italienischen Sternenhimmel

Unsere Väter, die alten Nazis (Achtung Sarkasmus) hätten sicher eine Freude gehabt, wenn sie sähen, dass wir, ihre Nachkommen, jetzt wo alles verboten wurde, was mit ihrer Ideologie in Zusammenhang gebracht werden könnte, mit fliegenden Fahnen zu ihren ehemaligen Feinden, den Kommunisten, überlaufen. Aber vielleicht hätten sie inzwischen ihren historischen Irrtum, der der Feindschaft zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus zugrunde lag, ohnehin längst erkannt. Vielleicht wären auch ihnen, nicht nur uns, die offensichtlichen Gemeinsamkeiten klar geworden, die den Kommunismus und den Nationalsozialismus immer schon verbunden haben. Diese Gemeinsamkeiten dürfen jetzt, da der Nationalsozialismus verboten ist, im Kommunismus ungestört ausgelebt werden: Die ideologische und faktische Vernichtung des Individuums, die Hinwendung zu einer durch und durch totalitären Staatsorganisation, nicht zuletzt die Beseitigung der demokratischen Staatsverfassung bis hin zum Fuehrerkult, alles das fand und findet sich in kommunistischen Gesellschaften ebenso wie es sich im Nationalsozialismus fand. Beide wünschten sich den Staat als Diktatur; einmal eine religiös verbraemte Diktatur eines beseelten Führers, das andere Mal die Diktatur des Proletariats. Man muss nur „Klasse“ durch „Rasse“ ersetzen und das „prolet“ vor „arisch“ setzen und schon fügt sich eines zum andern.

Und noch eine nicht minder bedeutsame Gemeinsamkeit lässt sich erkennen: Die Lust am Massenmord! Die Nationalsozialisten mordeten so an die sechs Millionen Menschen, größtenteils mosaischen Glaubens, die Kommunisten der ehemaligen UdSSR waren im Umgang mit ihren Kulacken auch nicht gerade zimperlich und wie viele Menschen in den Gulags umkamen, werden wir vielleicht auch noch einmal genauer erfahren. Die Millionen von Toten, die auf das Konto des Kommunisten Mao Tsedong gehen, nicht zu vergessen; der Chinese nannte seine „Säuberungen“ beschönigend sogar Kulturrevolution. Vielleicht hatte er gerade deswegen viele Fans in den Kulturnationen Westeuropas requirieren koennen? Auch Kuba und Nordkorea sollte man nicht vergessen; und weil es näher liegt, die „Mauertoten“ der DDR dürfen auch nicht unerwähnt bleiben. Wenn das auch alles angeblich weniger verbrecherisch war, als das verbrecherische Tun der nationalsozialistischen Moerderbande, so ist es doch bei weitem verbrecherisch genug, um heute jene Parteien zu verbieten, die sich offen zu den selben ideologischen, also kommunistischen, Grundsätzen bekennen, nach denen auch die Vorgenannten handelten. Wenn in einer Demokratie gutgeheissen werden kann, dass man zu ihrem Schutz politische Ideologien durch „Verbotsgesetz“ unterdrückt, so besteht meines Erachtens kein trifftiger Grund, dass man dieses Gesetz nicht auch auf die Kommunistische Partei anwenden sollte.

Dass man bisher darüber öffentlich weder nachgedacht noch diskutiert hat, schreibe ich der Tatsache zu, dass die KPÖ in Wahlen kaum einmal mehr als 4 Prozent Zustimmung erhalten hat,. Offensichtlich war das zuwenig Zuspruch, um das Problem wahrzunehmen. Das hat sich geändert, wie man weiß. Die Kommunisten haben Kreide gegessen und verkleiden sich erfolgreich als soziale Menschenfreunde. Das „Soziale“ konnten die Nazis aber auch ganz gut. Sie sammelten für das Winterhilfswerk, organisierten das „Kraft durch Freude – Programm“, alles für den „Kleinen Mann“. Eine weitere Gemeinsamkeit kristallisiert sich heraus: die „Solidarität“, das Soziale. Bei den Kommunisten zeigt es sich als Solidarität der internationalen Arbeiterschaft, bei den Nationalsozialisten bezog sich die Solidarität auf die Volksgemeinschaft. Keiner der beiden hatte a l l e im Sinn. Und beide Ideologien schützen sich vor Kritik indem sie sich durch einen beliebten Trick immunisieren. Sie behaupten, Kritiker hätten einfach das „falsche Bewusstsein“, seien also durch die Umstände so verblendet, dass sie die wahren Fakten und Zusammenhänge gar nicht erkennen können. Ein Trick, der in vielen Bereichen seit urdenklichen Zeiten zu Bewahrung allerlei esoterisch – religiösen „Wissens“ angewendet wird. Wie lange werden wir ihnen, den Ideologen, noch hereinfallen?

Epilog:

Die Idee zu diesem Text verdanke ich einer fast schlaflosen Nacht in einer (sonst sehr gemütlichen) Hängematte unter dem Sternenhimmel nahe des kleinen Städtchens Bassano im schönen Italien. Über mir zogen einige Charter – Jets ihre Bahnen, die Urlaubsreife ihrem Traumziel näherbrachten. Die Grillen zirpten wie verrückt, von Fern hörte ich das dumpfe Dröhnen einer Disco. Nur manchmal setzte sich ein Fetzen Musik durch. Hin und wieder blitzt aber doch ein Gedanke an den Krieg auf. Wir Menschen wären imstande so viel Schönes zu schaffen. Ich glaube, irgendwas hat er grundlegend falsch gemacht, der „Liebe Gott“!

Große Gesellschaften sind gefährlich?

Große Gesellschaften sind gefährlich?

 

Buchbesprechung: Leopold Kohr, „Das Ende der Großen“, Zurück zum menschlichen Maß, Otto Müller Verlag, 4.Auflage, Salzburg-Wien, 2017

Kohr vertritt die Ansicht, dass alle Gesellschaften, die ein bestimmtes Maß von Größe und Dichte überschreiten zu „gefährlichen Gesellschaften“ werden.
Bei allen Sympathien, die ich sonst Kohrs Vorliebe für kleine Einheiten entgegenbringe, scheint mir diesmal sein theoretischer Bogen etwas „überspannt“.

Einige aussagekräftige Zitate seien an den Beginn gestellt:

„Eine übervölkerte Gesellschaft ist daher sogar in einem Stadium relativer Ruhe voll von inhärenten Gefahren.“ (75)

Dies geschieht nicht, weil größere Städte proportional mehr schlechte Menschen beherbergen als kleinere, sondern weil ab einem gewissen Punkt die soziale Größe selbst zum hauptsächlichen Kriminellen wird. Es gibt auf der ganzen Welt keine Menschenmenge, die sich nicht im Nu in ein Wolfsrudel verwandeln könnte, so heilig ihre ursprünglichen Absichten auch waren.“ (76)

„Wie die Gesellschaft und mit ihr die Macht wächst, so wächst auch ihr korrumpierender Einfluß auf den Geist.“ (77)

Kritische Größe – Dichte und Geschwindigkeit

„Im Einschätzen der kritischen Größe einer Gesellschaft ist es jedoch nicht ausreichend, nur im Sinne der Größe ihrer Bevölkerung zu denken. Ihre Dichte (die Beziehung der Bevölkerung zum geografischen Areal) und die Geschwindikeit (die Widerspiegelung des Ausmaßes ihrer zu verwaltenden Organisationen und ihres technisches(n) Fortschrittes) müssen ebenso ins Kalkül gezogen werden.“ (81)

„Wenn also kritische Macht die direkte Ursache sozialer Bösartigkeit ist, dann können wir sagen, daß kritische soziale Größe, der Urboden für das Anwachsen kritischer Macht, ihre letztendliche primäre Ursache ist. (81)

„Die prinzipielle Ursache regelmäßig wiederkehrender Ausbrüche von Massenkriminalität und der damit verbundenen moralischen Abstumpfung selbst innerhalb großer Teile der zivilisierten Gesellschaften liegt anscheinend nicht in einer falschen Führung oder in einer korrupten Philosophie, sondern in einem rein physischen Element. Dieses Element ist mit Anhäufung und Anzahl verknüpft, die eine intensivierende Wirkung ausüben…[…] (S.80)

„Wir müssen die Größe von Gemeinschaften wie jener von Chicago auslöschen.“ (83)

„Ist nämlich sozial erzeugte Brutalität (auf individueller oder auf Massen-Ebene) meist nichts anderes als das spontane Resultat des kritischen Volumens der Macht,das immer erzeugt wird, wenn die menschliche Masse eine gewisse Größe erreicht hat, […] (82)

Davon, dass man Kriminalität durch einen verstärkten Sicherheitsapparat durch Ausbau von Überwachungsinstrumenten beherrschen könne, davon hält Kohr wenig.

In großen [ sozialen Einheiten] ist dies allerdings schwierig und gefährlich. Schwierig, weil die Geschichte gelehrt hat, daß soziale Kettenreaktionen in massiven Gesellschaften ganz unerwartet einen Grad erreichen können, der von keiner Polizei der Welt eingedämmt werden kann.“ (82)

Das alles klingt nicht unplausibel. Die Zweifel wachsen aber, wenn man seine These mit der objektiven Daten der Wirklichkeit vergleicht.

Der Spiegel online, vom 2.1.2017 schreibt:

„Im vergangenen Jahr sind in Chicago so viele Menschen umgebracht worden wie seit fast 20 Jahren nicht. Mehrere Medien berichteten unter Berufung auf Polizeistatistiken, es habe 2016 insgesamt 762 Morde in der Stadt gegeben. Das entspricht einem Anstieg von fast 60 Prozent, verglichen mit 2015. (Einwohner 2014 und 2015 ca, 2,7 Millionen, diese Zahl ist seit 2010 etwa konstant)“

Wie würde wohl Kohr diesen Anstieg mit seiner Theorie erklären?

„In Chicago werden jedes Jahr mehr Menschen getötet als in New York und Los Angeles zusammen, obwohl jede der anderen beiden Städte mehr Einwohner hat als Chicago mit seinen 2,7 Millionen Menschen.“

Anmerkung:

„Die Arbeitslosigkeit unter den Afro-Amerikanern in Chicago liegt bei 14,2 Prozent – das ist fast doppelt so hoch wie der landesweite Durchschnitt von rund acht Prozent für diese Bevölkerungsgruppe. Und auch dieser ist weit höher als die allgemeine US-Arbeitslosenrate von derzeit 4,9 Prozent.“

„Gleichzeitig wächst bei vielen Beamten der Frust. Wegen fehlender gesetzlicher Grundlagen könnten Verdächtige bei illegalem Waffenbesitz lediglich wenige Tage festgehalten werden, klagen sie. (Der Tagesspiegel)“

Ein Vergleich:

Singapur (5,5 Millionen Einwohner, doppelt so viele wie Chicago) hatte 2015 eine Mordrate von 0,2 pro 100.000 Einwohnern. – hochgerechnet auf 2.7 Millionen Menschen ergäbe das insgesamt 5,4 Morde pro Jahr

Buenos Aires: Mordrate von 6 pro 100.000 Einwohnern, hochgerechnet auf 2. 7 Mill. – 162 Morde pro Jahr

Auch der Vergleich zwischen Wien und Graz würde Kohrs These nicht bestätigen

Einwohnerzahl Wien 2017 1,7 Mill., 20 Morde, 1.2 pro 100.000 Einwohner (Wien hat mehr als 6 mal so viele Einwohner wie Graz.)

Einwohneranzahl Graz 2017: 282.000, 9 Morde (um 5 mehr als 2016) = 3 pro 100.000 Einwohner (Ausreißer) bei einem Schnitt von 5 = 1,77 pro 100.000 Einwohner

Der Befund Kohrs und sein Hinweis auf die „kritische Größe“ scheint sich durch diese Statistik jedenfalls nicht (so ohneweiteres) bestätigen zu lassen.

Die Ansicht, dass es Völker gäbe, die eher zu Kriminalität neigen als andere, wird als tragfähige Theorie heute auch kaum mehr in Frage kommen.

Aber auch eine Theorie zu kreieren, die die „soziale Verelendung“ in Form von aggressiver Kriminalität monokausal auf die Größe und Dichte eines Gemeinwesens zurückzuführen versucht, scheint wie sich zeigt wenig ergiebig.

Man wird aber doch davon ausgehen können, dass für kriminelles abweichendes Verhalten bis zu einem gewissen Grad (eine Zahl zu nennen, wäre unseriös) auch „genetische Dispositionen“ eine Rolle spielen könnten. „Affekte“ werden nicht in jedem Menschen gleichstark zur Oberfläche drängen;  und auch die sozial erlernte Fähigkeit, sie im Zaum zu halten, wird von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark erlernbar sein oder auch erlernt worden sein. Zum überwiegenden Teil aber wird sich die Frage, warum jemand kriminell wurde, auf auf einen vielfältigen Mix von genetisch bedingten und sozial bedingten Faktoren zurückführen lassen.

Man kann davon ausgehen, dass in jedem Menschen Aggressivität und Gewaltimpulse oder Impulse zu sozial abweichendem Verhalten grundgelegt sind. Die Frage, welche Faktoren dazu führen, dass Menschen in manchen Gesellschaften besser als andere in der Lage sind, diese Impulse erfolgreich zu kontrollieren, bleibt – wenn man nicht bereit ist, Kohr zu folgen, leider unbeantwortet.

Leopold Kohrs Versuch, es den Naturwissenschaften gleichzutun und abweichendes menschliches Verhalten mit einem einzigen allgemeingültigen „Gesetz“ zu erklären, scheint mir nicht zielführend.

Vielleicht sollte man das Augenmerk solcher Untersuchungen darüberhinaus auch darauf richten, wie groß Täter die Chancen in den einzelnen Städten einschätzen, Verbrechen nicht nur erfolgreich auszuführen, sondern auch nach der Tat unentdeckt zu bleiben. Vielleicht sagen objektive Größen wie „Stärke des Sicherheitsapparates, die Aufklärungsquote und die Höhe der Strafandrohung doch mehr aus, als die Größe und Dichte einer Stadt?

Andere Autoren führen diese Erscheinungen, die Kohr unter dem Stichwort „soziale Verelendung“ führt, auf die „Ungleichverteilung von Einkommen und Eigentum“ zurück. Darauf soll hier aber nur mit einer abschließenden Randbemerkung eingegangen werden.

Welche Rolle spielt die Ungleichheit?

„In Japan besitzen die reichsten 20 Prozent nur knapp vier Mal so viel wie die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung.“

Für Japan wird ein signifikanter Rückgang von Gewaltdelikten festgestellt. Im Jahr 1954 wurden noch 3081 Mordfälle gezählt.
Für 2017 hingegen nur mehr 896 Fälle.  Die Bevölkerungszahl ist zwar in den letzten Jahren rückläufig, dennoch kann man im 20. Jahrhundert von einer Bevölkerungsexplosion sprechen.

Einwohnerzahl Japan: 1960: 92,5 Mio. ; 2010 127 Mio. Einwohner

„In 896 Fällen handelt es sich um Mord oder versuchten Mord. Es ist erst das dritte Mal seit Kriegsende, dass diese Zahl unter die Schwelle von 1000 gefallen ist. In einem Land mit knapp 127 Millionen Ein- wohnern ist dies eine fast verschwindend kleine Zahl, auch wenn das japanische Fernsehen in seinen Nachrichten-sendungen gerne ein anderes Bild zeichnet.“ (asienspiegel, Jänner 2017)

„In Singapur und in den USA verdienen die reichsten 20 Prozent rund neunmal so viel wie die ämsten 20 Prozent.“
Dennoch unterscheiden sich die Kriminalstatistiken der USA und die von Singapur signifikant. In Singapur herrscht eklatante Ungleichheit, bei geringer Kriminalität, eine noch geringere als in Japan, in den USA eklatante Ungleichheit bei extrem hoher Kriminalität

(Vgl. Richard Wilkinson und Kate Pickett, Gleichheit ist Glück, Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. 3.Auflage, Tolkemitt Verlag, Berlin 2009)

„Ungleichheit“ bietet also als Erklärungsfaktor auch nicht ausreichend Potenzial.

Bezüglich seiner „mikro-soziologischen Erklärungskraft“ bin ich zugegebenermaßen etwas enttäuscht; man wird sehen, was das Buch in Hinblick auf die „makro-soziologische Ebene“ noch zu bieten hat. Einstweilen gilt:

„Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zu vor!“

Wir Heimatlosen

Es fehlt unter den Europäern von heute nicht an solchen, die ein Recht haben, sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen, – ihnen sei meine geheime Weisheit und gaya scienza ausdrücklich ans Herz gelegt! Denn ihr Los ist hart, ihre Hoffnung ungewiss, es ist ein Kunststück ihnen einen Trost zu finden – aber was hilft es! […]

Wir sind keine Humanitarier; wir würden uns nie zu erlauben wagen, von unsrer „Liebe zur Menschheit“ zu reden. – dazu ist unsereins nicht Schauspieler genug. […]

„Nein, wir lieben die Menschheit nicht; andererseits sind wir aber auch lange nicht „deutsch“ genug, wie heute das Wort „deutsch“ gang und gäbe ist, um den Nationalismus und dem Rassenhaß das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt. Dazu sind wir zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut unterrichtet, zu „gereist“: wir ziehen es bei weitem vor, auf Bergen zu leben, abseits, „unzeitgemäß“, in vergangnen oder kommenden Jahrhunderten, nur damit wir uns die stille Wut ersparen, zu der wir uns verurteilt wüßten als Augenzeugen einer Politik, die den deutschen Geist öde macht, indem sie ihn eitel macht, und kleine Politik außerdem ist: – hat sie nicht nötig, damit ihre eigene Schöpfung nicht sofort wieder auseinanderfällt, sie zwischen zwei Todeshasse zu pflanzen? muß sie nicht die Verewigung der Kleinstaaterei Europas wollen?… Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als „moderne Menschen“, und folglich wenig versucht, an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht teilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt und die bei dem Volke des „historischen Sinns“ zwiefach falsch und unanständig anmutet. Wir sind mit Einem Worte – und es soll unser Ehrenwort sein!- gute Europäer, die Erben Europas, die reichen, überhäuften, aber auch überreicht verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem Christentum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir aus ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christentums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland zum Opfer gebracht haben. Wir – tun desgleichen. Wofür doch? Für unsren Unglauben? Für jede Art Unglauben? Nein, das wißt ihr besser, meine Freunde? Das verborgne Ja in euch ist stärker als alle Neins und Vielleichts, an denen ihr mit eurer Zeit krank seid; und wenn ihr aufs Meer müßt, ihr Auswanderer, so zwingt dazu auch euch – ein Glaube!…

Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Phaidon, 147 / 377; Band 2, S.119f

Die Islamisierung Europas und die Renaissance des Nationalen

Österreichs Sozialdemokratie steht treu zu Deutschlands Christlichsozialen, währenddessen sich ein Spalt zwischen CDU und CSU öffnet. Merkel wird am Parteitag der CSU als Stiefkind in die Ecke gestellt, ein paar Tage später von der CDU als „leuchtender Stern am Firmament“ gefeiert. „Wir schaffen das!“ sagt sie.

Wieder einmal schlägt die Stunde der Appelle!

„Es ist die Pflicht eines jedermann, der ein Mitbürger sein will, stantape Schulter an Schulter sein Scherflein beizutragen. Dementsprechend. Da heißt es sich ein Beispiel nehmen, jawohl! Und darum sag ich auch, ein jeder von euch soll zusammenstehen wie ein Mann! Daß es nur hearn die Feind, es ist ein heiliger Verteilungskrieg, was wir führn! Wiear ein Phönix stehma da, den’s nicht durchbrechen wern, demsprechend – mir san mir und Österreich wird auferstehn wie ein Phallanx ausm Weltbrand sag ich! Die Sache für die wir ausgezogen wurden, ist eine gerechte…..und darum sag ich auch……“ [1] 

 Großbritannien plant eine Abstimmung über den Austritt aus der EU, die ehemaligen „Ostblock-Staaten“ verweigern ihre Solidarität in der Flüchtlingsfrage, Ungarn wird von einem „bösen Nationalisten“ kommandiert, der die Banken mit seiner Abwertung der Fremdwährungskredite zu Gunsten seiner Landsleute düpierte und eine Zaun gegen Flüchtlinge bauen ließ. Griechenland ist wieder einmal dem wirtschaftlichen Kollaps nahe und bringt auch sonst nichts zustande, die „Grande Nation“ zieht in den Krieg gegen den IS, Deutschland feiert „Willkommenskultur“ und die VW-Krise, Schweden hat von Flüchtlingen die Nase voll, großteils bleibt auch das erhoffte Wirtschaftwachstum aus. Der europäische Einigungsprozess, die Europäische Union ist in Gefahr! 

Der Auslöser dieses Auflösungsprozesses sei das Wiedererstarken der von Europa überwunden geglaubten Nationalismen innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten, sagt man.

Eine reaktionäre Rückbesinnung auf „partikulare Interessen des Nationalstaates“ sei im Gange, zumal sich  viele Staaten des ehemaligen „Ostblocks“  in der Flüchtlingsfrage uneinsichtig  erweisen würden und von der „Gemeinschaft“ nicht zur Ordnung gerufen werden könnten.

Angesichts der Herausforderungen, die die große Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und Ländern Afrikas mit sich bringe und im Bewusstsein der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen sich die Europäische Gemeinschaft befinde, der überstrapazierten Staatshaushalte,  der Abwanderung vieler Industriebereiche in Billiglohnländer, eines allgemeinen wirtschaftlichen „Niederganges“, beginne sich anstelle der gewünschten Konsolidierung der Europäischen Union geradezu ein gegenteiliger Effekt abzubilden;  der Vormarsch der Nationalisten  würde alles Erreichte zugrunde richten, meinen die Europa-Pessimisten.

Die Renaissance des Nationalen würde zusätzlich belegt durch die zahlreichen Bestrebungen neue Staaten zu gründen: belegt durch den Kampf der Kurden, einem Volk, dass von den Europäern auf vier Staaten aufgeteilt wurde oder auch durch den Kampf der Palästinenser für einen eigenen Staat; sogar innerhalb Europas gibt es zahlreiche Belege: die Bestrebungen der Basken unabhängig zu werden, den inzwischen befriedeten Konflikt in Nordirland, aber auch das Unabhängigkeitsbegehren der Katalanen;  die Abspaltungstendenzen wie sie von der Lega Nord vertreten wurden, nicht zuletzt die inzwischen beigelegten Autonomiebestrebungen Südtirols. Diese Renaissance ließe sich aber ebenso in der Teilung der ehemaligen Tschechoslowakei in Tschechien und Slowakei erkennen. Nicht zu vergessen die in der Folge des Balkankrieges entstanden „neuen“ Nationalstaaten: Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kosovo und die nationalen Tendenzen in Mazedonien, die den Konflikt mit Griechenland immer noch anheizen. Auch der Zerfall der UdSSR (ab März 1990) brachte bekanntlich eine Anzahl von nationalen „Neugründungen“, mit der man diese Liste ohne weiteres fortsetzen könnte. Ein einst von vielen als anachronistisch bezeichnetes Phänomen feiert fröhliche Urständ, der Nationalismus.

*

Dies sollte Anlass sein, sich einmal mehr über den Begriff der „Nation“ Klarheit zu verschaffen, insofern als dieser Begriff den Erosions- und Erneuerungsprozessen natürlich ebenso ausgesetzt ist, wie alle anderen Begriffe, mit denen unsere Sprache die Welt beschreibt. Die Nation[2] formuliert im Gegensatz zum Staatenbund kein universales, sie formuliert ein partikulares Interesse.

Partikulare (nationale und Einzel-) Interessen hat es auch im „Gemeinsamen Europa“  immer gegeben. So ist Großbritannien bis heute der Währungsunion mit Absicht fern geblieben. Allerdings war man gewohnt, diese Teilinteressen bisher auf einer anderen Ebene, nämlich eher auf der ökonomisch geprägten Interessenssphäre international agierender Großkonzerne anzusiedeln, die die politischen Entscheidungsgremien auf nationaler Ebene zu einem größtenteils entmachteten „Zuseher“ degradierten – zumindest solange es für das wirtschaftliche Subsystem gut lief, die Gewinne steuerschonend privatisiert und die Spekulationsverluste, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, sozialisiert werden konnten.

Spätestens mit jenem Augenblick aber, da Sand in Form von nicht mehr so ohne weiteres verkraftbaren „Spekulationsblasen“ ins Getriebe dieser Maschinerie kam, schien selbst den glühendsten Verfechtern neoliberaler Wirtschaftspolitik die Prämisse „Freie Marktwirtschaft“ obsolet und  der Ruf nach dem „Retter“ Staat erschallte unüberhörbar durchs Land. Und der Staat rettete: die Großanleger und die Banken; und der Steuerzahler tat das, was er tun muss, er zahlte. Und er wird  weiter zahlen.

In der Frage der Flüchtlingskrise scheint es abgesehen davon, dass natürlich auch hier der Steuerzahler es ist, der zur Kasse gebeten wird, doch etwas anders zu sein.

Der Grund: Die Flüchtlingsdebatte berührt wirtschaftliches Interesse nur bedingt. Die Lobbys des Finanzkapitals und der Großindustrie schweigen. Ein kurzer  Zwischenruf dahingehend war dennoch zu hören:, syrische  Einwanderer wären durchaus in der Lage, das Problem der gesellschaftlichen Überalterung zu lösen, könnten sich sogar als Wachstumschance erweisen; manche meinten, sie würden sogar das Problem des Facharbeitermangels lösen helfen. Ganz überschwängliche Optimisten verstiegen sich zur Aussage, es würden sich sogar eigene Universitäten für Asylwerber rentieren, da der Großteil der Einwanderer über eine der Matura ähnliche Ausbildung verfüge.

Alles das war, so stellt sich  nun heraus, nicht mehr als eine Seifenblase, und die ist inzwischen geplatzt:  Zwei Drittel der Flüchtlinge besitzen kaum mehr als eine dürftige Grundschulausbildung, sind des Lesens und Schreibens mehr oder weniger unkundig, sind funktionelle Analphabeten. Sie werden über Jahre hinaus für den Arbeitsmarkt unbrauchbar bleiben, also von der staatlichen Mindestsicherung leben.

Die Zurückhaltung der Wirtschaftslobby in der Frage der „Flüchtlingskrise“ eröffnete der Politik ungewohnte Spielräume, die natürlich innerhalb Europas unterschiedlich genutzt werden. Während die einen glauben, einer humanistischen Idealvorstellung folgend einer undifferenzierten „Willkommenskultur“  multikulturale Feste ausrichten zu müssen, schotten sich die anderen energisch ab, weigern sich mitzufeiern und werden als „Ewiggestrige“ oder als nationalistische Egomanen verunglimpft.

*

Die Zeiten der eigenen staatlichen Nationsgründung, in denen Österreich in der Form eines „Zweiten Versuchs“ den Nationalfeiertag in patriotischer Weise als „Tag der Fahne“ beging, sind vorbei und auch dessen peinliche Umgestaltung in eine „Fit-mach-mit- Bewegung“  ist nicht mehr unbedingt aktuell. Der nunmehrige Slogan scheint sich längst auf ein „Mach mit, mit Merkel!“ zu beschränken. Und „wir“ machen mit, sei der Unsinn auch noch so groß. Hauptsache, wir sind auch mit-dabei beim europäischen Flüchtlingshappening!

Aber irgendwie scheint einigen die Art und Weise wie man das „geeinte Europa“ nun zu definieren versucht, doch nicht mehr so ganz zu gefallen. Die Tatsache, dass die Einschränkungen und die steuerlichen Lasten, die dem zerbröckelnden Mittelstand auferlegt werden, ihm auf demokratische Weise auferlegt wurden, scheint  ihm die Bürde dieser Einschränkungen nicht wesentlich zu erleichtern.

Es regt sich Widerspruch!

Die Politik reagiert darauf, allerdings nicht mit gegensteuernden Maßnahmen, sondern mit demagogischen Beruhigungspillen der Form: „Wir schaffen das!“

Die Nation scheint sich zu spalten. Keine Rede von gemeinsamen Werten. Es spielt Law and Order gegen Laissez faire!

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Der Nationalstaatsgedanke, ja der Nationalismus selbst, mehr als einmal totgesagt, bekommt – vielleicht gerade deswegen -allerorten Aufwind und das nicht nur in Form von randalierenden, kriminellen und halbkriminellen „Glatzköpfen“. Der Nationalismus erobere, so könnte man sagen, vermehrt den bourgeoisen Mittelstand, bisher Domäne des bürgerlich Konservativen, aber auch des aufstrebenden Proletariats, um es in der Sprache des marxistischen Vokabulars auszudrücken.

Wenn man von den ursprünglichen Definitionen des Nationalismus Abstand nimmt, die weitgehend auf  dem Gedanken der gemeinsamen Abstammung, der ethnischen Homogenität eines Staates und der politischen Schicksalsgemeinschaft  aufbaut und einer etwas moderneren Version den Vorzug gibt, wie der nachfolgenden: Nationen können….durch Bewusstsein wie durch Kultur …..und die Konvergenz beider mit politischen Strukturen definiert werden…..Die Fusion von Bewusstsein, Kultur und Politik wird zur  Norm.“ [3] dann verliert der bis dahin etwas stringente Begriff von Nationalität, etwas von seiner Strenge und macht ihn flexibler, knetbarer, und sogar auf moderne Verhältnisse anwendbar, die sich von ethnischer Homogenität längst entfernten. Vielleicht geht es gar nicht um  verstärkten „Nationalismus“? Vielleicht  geht es in erster Linie darum, dass die Menschen, die den Rechtsstaat geschützt sehen wollen, nicht mehr bereit sind, weitere Belastungen auf sich zu nehmen, vielleicht richtet sich ihr Hoffen auf einen sicheren Arbeitsplatz, der sie auch die nächsten Jahre ernähren wird, vielleicht auf verbesserte Ausbildungsmöglichkeiten, vielleicht hoffen sie nur auf Kindergartenplätze und darauf, dass das Gesundheitssystem nicht kollabiert?  Und jetzt versucht man  „Nationalisten“ aus ihnen zu machen?

*

Der Front National  hat bei den französischen Regionalwahlen im ersten Durchgang in sechs Regionen Frankreichs die Mehrheit geschafft;  der „Siegeszug“ wurde im zweiten aber wieder relativiert, in keiner einzigen Region wurde die Mehrheit gehalten. Insgesamt steht der Front mit einem Wählerpotential von 6,6 Mio. dennoch besser da als jemals zuvor.

Christian Ortner vermutet hinter den Wahlerfolgen des Front National, einer offensichtlich nur vordergründig „rechten Bewegung“,  eine links-totalitäre Politik.

„Denn gewonnen hat Frau Le Pen die letzten Wahlgänge nicht nur dank Frau Merkels Migrationspolitik, sondern vor allem auch mit Forderungen nach Einfuhrzöllen zum Schutz der französischen Wirtschaft, einer teilweisen Verstaatlichung der Gewinne von Unternehmen, einer Senkung des Rentenalters auf 60, einer Erhöhung der Mindestlöhne um mehrere hundert Euro, einer weiteren Finanzierung der staatlichen Defizite auf Pump, notfalls gar durch das Drucken von Geld durch die französische Notenbank, die aus dem Euro-System ausscheiden soll. Banken sollen verstaatlicht werden, der Staat soll die Preise von Gütern und Dienstleistungen kontrollieren wie einst in der DDR. Ein System der Planwirtschaft soll nach den Vorstellungen der Front National an die Stelle des freien Marktes treten, Globalisierung und Wettbewerb sollen an den französischen Staatsgrenzen abgewehrt werden. Das liest sich freilich eher wie das Parteiprogramm einer weit linksaußen angesiedelten politischen Plattform und gleicht aufs Haar jenen Konzepten, mit denen der sozialistische Populist Hugo Chávez und seine Erben es geschafft haben, den Ölstaat Venezuela komplett und nachhaltig zu versenken und die Bevölkerung verarmen zu lassen.“ [4]

Da hilft es auch nicht zu behaupten, die große Anzahl von Flüchtlingen und die Terroranschläge in Paris seien es, was der Rechten zugute  gekommen sei.  Die Lage so zu beurteilen, dürfte, da muss man Herrn Ortner recht geben, eine grobe Fehleinschätzung sein, die in ähnlicher Form auch nach dem (voraussichtlichen) Wahlerfolg der FPÖ, der wohl unausbleiblich sein dürfte, auch hier in Österreich vertreten werden wird.

Es ist und bleibt eine Fehleinschätzung insofern, als nicht allein die große Anzahl von Flüchtlingen den auch in Österreich spürbaren „Rechtsruck“  begünstigt; das katastrophale Krisenmanagement der Sozialdemokraten und ihres Regierungspartners ÖVP, und die immer wiederkehrende Absage an die Gestaltungskraft des Nationalstaates, ohne etwas annähernd Gleichwertiges anbieten zu können, ist es, was den Nationalismus, was „die Rechten“ stärkt.

Abgesehen davon, dass auch noch ganz andere (ohnehin allseits bekannte) Faktoren eine Rolle spielen – ein großer Teil von Arbeitslosen fühlt sich nicht mehr ausreichend von der SPÖ vertreten, es gibt bekanntlich mehr als 400.000 Arbeitslose, deren Aussichten auf einen Job weiterhin äußerst gering sind; und nun müssen diese Arbeitslosen auch noch die Konkurrenz der Einwanderer fürchten; die Kostenentwicklung auf dem Wohnungsmarkt  wird zu einer Belastung für Bezieher niederer Einkommen, Parallelgesellschaften haben sich entwickelt, die ganze Stadtteile für die „Einheimischen“ unattraktiv erscheinen lassen –  alles das lässt viele der SPÖ-Stammwähler ins Rechte Lager abdriften.

Aber auch Konservative fühlen sich vom politischen Establishment verraten. Sie führen die  nun eingeführte Registrierkassenpflicht, die Steuerbelastung für Klein- und Mittelbetriebe und die Misswirtschaft der Kammern an für ihre Unzufriedenheit, abgesehen davon,  dass viele dem „Hype“, der um die sogenannten „alternativen Lebensformen“ (Lesben- und Schwulendebatte) entstanden ist, keine große Sympathie entgegenbringen. Ein Teil dieser Klientel, der wirtschaftlich enttäuschte, wird vielleicht zu den Neos abwandern und wird hoffen, dass die Wirtschaftsinteressen hinkünftig dort besser vertreten werden, als es aktuell von der ÖVP geschieht. Ein anderer Teil, den man mit  dem Wort „Wertkonservativ“ umschreiben könnte, könnte sich der FPÖ zuwenden, zumal deren Vertreter sich hin und wieder ganz gerne kirchlicher Symbolsprache bedienen, um den REKOS auch noch das letzte Tröpfchen Wasser abzugraben.

Zu alledem kommt die Sorge der Staatsbürger um die Gewährleistung der  eigenen Sicherheit. Die Terroranschläge von Paris heizten die Stimmung rund um das Immigrationsthema zusätzlich an. Wird man den westlichen Lebensstil weiterhin beibehalten können oder wird man sich fürchten müssen, in der Öffentlichkeit Musik zu hören, sich in öffentlichen Parks im Bikini zu sonnen, weil es unter den hier lebenden Anhängern Allahs verpönt ist? Wie soll man sich eingewanderten muslimischen Menschen gegenüber verhalten, deren religiöse Grundeinstellung mit dem westlichen Lebensstil unvereinbar ist?  Soll man „Appeasement“ betreiben oder Härte zeigen? Dass diese Fragen bisher politisch nicht virulent wurden, lag daran, dass man sie einfach nicht stellte. Man fürchtet dadurch „Hass zu schüren“. Aber ist es wirklich besser, die Probleme zu verdrängen? Demokratie, eine offene Gesellschaft lebt von der ernsthaften politischen Auseinandersetzung, diese zu unterdrücken kann nicht die Lösung sein.

*

Die Folge ist Abschottung, der Wunsch alles Fremde fernzuhalten, sich auf das „Eigene“ zurückziehen zu können. Und dieses Eigene ist auch das Nationale, mit dem man sich jahrelang geborgen fühlte, das Sicherheit bot. Die Nationen feiern ihre Wiedergeburt!

Aber was ist das, eine Nation?

Nationalstaaten sind nicht nur „ideologische Gebilde“,  sie sind auch „soziale Gegebenheiten“ insofern, als sie durch ihr Vorhandensein Strukturen schaffen[5], die Auswirkungen auf das tägliche Leben haben; in diesem Sinne sind sie auch „funktionale Gebilde“, die Aufgaben zu erfüllen haben, ohne dass es notwendig wäre, diesem Gebilde ethnische Homogenität, eine einheitliche Sprache oder die Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung zu Grunde zu legen. Den Umfang dieser Aufgaben zu bestimmen, hieße den Rahmen hier sprengen zu wollen, er reicht von der Vorstellung eines „ultra minimal state“  [6] über einen gemäßigten Kommunitarismus [7] bis zum ausufernden „Wohlfahrtsstaat“ [8] unserer Tage, der sich für alles und jedes zuständig fühlt.

„Zur Nation wird das Kulturvolk, das an sich politisch amorph ist, dadurch, daß es ein Zusammengehörigkeitsbewußtsein zu einem politischen Willenszusammenhang entwickelt. Keineswegs genügt zur  Konstituierung der Nation das bloß ethnische Zusammengehörigkeitsgefühl.“  [9]

Dass unsere „Gesellschaften“ in erster Linie (immer noch) „nationale Gesellschaften“ – also Nationalstaaten – sind, deren Funktionen auf ein nach außen hin begrenztes Gebiet, auf seine Staatsbürger und die Staatsmacht hin ausgerichtet sind, ist eine soziale Gegebenheit, die täglich ihre Wirkungen entfacht. Das ist die Macht des Faktischen, gegen die man mit bloßen „Wunschvorstellungen“ von einer Welt, wie sie (vielleicht) sein sollte, nicht ankommt. Wenn einem das nicht gefällt, kann man sich mit demokratischen Mitteln dafür einsetzen, dies zu ändern und einen zentralistisch organisierten „Europäischen Einheits-Staat“ oder sogar eine „Weltregierung“ zu schaffen, das ist legitim.

Solange die EU  aber so verfasst ist, wie sie gegenwärtig verfasst ist, supra-national nämlich – nicht als Bundesstaat, sondern als Staatenbund von immer noch mehr oder weniger souveränen Einzelstaaten -, darf  sich der Staatsbürger erwarten, dass seine Vertreter in erster Linie seine Interessen vertreten, bevor  sie sich der Interessen anderer annehmen.

Auf diese Hoffnung zu bauen, scheint  für viele Menschen derzeit jedoch nicht mehr berechtigt zu sein. Tagtäglich beweisen die vom Volk gewählten Vertreter  i h r e m Volk das Gegenteil und vertreten Interessen, von denen man angesichts der undurchsichtigen Interessenslage nicht einmal mehre genau sagen kann, um w e s s e n Interessen es sich dabei wirklich handelt.

Wenn das Supranationale, der Schutz der Außengrenzen, die gemeinsame Flüchtlingspolitik, ein gemeinsames Wirtschaften, eine gemeinsame Währung und daher gemeinsame Haushaltsregeln, wenn alles das versagt oder im Falle von auftretenden Schwierigkeiten außer Kraft gesetzt wird, wird der Nationalstaat notwendigerweise auf seine ureigenen Kompetenzen zurückgeworfen. Wenn ein Staatenverbund wie die EU seine Außengrenzen, wie mit dem Vertrag von Schengen vereinbart, beim ersten Anflug von Schwierigkeiten nicht mehr kontrolliert, erwächst den Mitgliedsstaaten nicht nur das Recht, sondern die Verpflichtung, die eigenen Grenzen zu schützen. In Anbetracht dieser politischen Entwicklung wird man daher, auch wenn man kein glühender Anhänger nationaler Überheblichkeit, kein Chauvinist ist, dazu neigen, der  nationalen Ebene wieder mehr Einfluss zuzugestehen. Und dies scheint im Europa unserer Tage wieder vermehrt der Fall zu sein.

Diese Entwicklung scheint sich zudem von der Einsicht zu nähren, dass zu große Einheiten unübersichtlich und auf föderalistischer Basis vielleicht sogar unregierbar werden. Dass sich diese Einsicht inzwischen auch auf Wahlergebnisse auszuwirken scheint, ist anscheinend immer noch für viele eine Überraschung.

Die Rückbesinnung auf  das „Nationale“ stellt aber auch, als Gegenentwurf zum Konzept der „Weltregierung“, eine Rückbesinnung auf den Grundsatz des „small is beautiful“ dar.

Das Grenzüberschreitende, Internationale, die Lust am Zentralismus, das Kosmopolitische kämpft gegen das Kleine, Überschaubare, bekannt Vertraute, romantisch Heimelige, verwirklicht als das Nationale. Dass „das Nationale“ besonders bei Österreichern und Deutschen einen bitteren Beigeschmack führt, ist in erster Linie der Geschichte geschuldet, die man schrieb. Franzosen, Engländer, Schweden, ganz Europa sonst, hat dieses Problem bekanntlich nicht. Die Staaten Europas verkörpern die „stolze Nation“, Österreich hingegen die „verschämt-halbherzige“, oder eine „Missgeburt“ wie sich ein verstorbener Politiker ausdrückte, den seine Anhänger einst die „Sonne am Kärntner Himmel“ zu nennen pflegten.

Es ist dabei natürlich auch zu berücksichtigen, dass sich die Inhalte dessen, was „Nationalismus“ heute beschreibt, sich von dem unterscheidet, was der Begriff in seinen Anfängen im 19. Jahrhundert bedeutete.

Die diesem Begriff ursprünglich zugewiesenen Bedeutungsgehalte, die Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung, der Blutsverwandtschaft, der Schicksalsgemeinschaft, der allen gemeinsamen Sprache, hat inzwischen in vielen Ländern einer Auffassung Platz gemacht, die gemeinsamen Kultur- und Wertauffassungen und einem Bekenntnis zur Verfassung Vorrang einräumt.

„Auf diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß ethnische Homogenität von Nationalstaaten nur selten anzutreffen ist. Das zeigen Zahlen, die auf einer Untersuchung von Connor (1972) basiert aus der Gesamtheit von 132 Staaten auf der Welt im Jahre 1971 waren nur 12 (9,1%) ethnisch homogen, 58 Staaten (40,2%) hatten sogar eine Bevölkerung, die aus fünf und mehr ethnischen Gruppen bestand.“ [10]

Würde man den Aspekt der „Wertübereinstimmung“ allerdings als einzigen gelten lassen, wäre es für Staaten relativ einfach, jeden aufzunehmen, wenn er sich nur zu den Grundzügen der gemeinsam vertretenen Kultur- und Wertauffassungen bekennt und verspricht, diese als die seinen einzuhalten. Niemand müsste von Integration sprechen, alle Integrationsbemühungen wären mit einem Schlag obsolet, da sich diese im Bekenntnis zur Verfassung und den „Werten“ erschöpfen würde. Aber auch dieses Bekenntnis wäre von jemandem, der in einem anderen Kulturkreis, in dem andere Werte gelten, sozialisiert worden ist, noch schwer genug zu erlangen, da „Werte im Verlaufe der Sozialisation vom Einzelnen erworben im Zentrum seines Innenlebens verankert werden, spielen sie ihre sinngebende und identitätsstiftende Rolle ein ganzes Leben lang und sind durch spätere Erfahrungen nur noch mit Mühe zu korrigieren.“ [11]

Mühe auch deswegen, weil „die Grundwerte des kollektiven Zusammenlebens und der individuellen Lebensführung die ältesten und häufig auch tiefsten Wurzeln in den Mythen und Religionen der Völker haben.“[12]

Die Vorstellung der Mensch würde seine Werthaltungen je nach dem welche Anforderungen an ihn gestellt werden oder gar nach Belieben wechseln, würde sich wie ein Chamäleon allen Umgebungen anpassen, ist ein Irrtum. Daher lassen sich  „kulturelle Divergenzen“ auch nicht so ohne weiteres verflüchtigen. Gerade deswegen wäre es angebracht, bei der Immigration von Menschen mehr darauf zu achten, ob die grundlegenden kulturellen Aspekte unter denen Menschen aufgewachsen sind, mit den kulturellen Eigenheiten der Einwanderungsländer kompatibel sind. Sind sie es, muss man immer noch im Einzelfall darauf hoffen, dass die beteiligten Personen auch die (gegenseitige) Bereitschaft zur Anpassung mitbringen.

Wie schwierig ein solcher Anpassungsprozess für beide Seiten ist, zeigt nicht zuletzt die Auseinandersetzung, die sich rund um die Wiener Kindergärten ergeben hat, die von muslimischen Betreibern geführt werden.

Klare Aussagen darüber, wie sie Außenminister Sebastian Kurz im ZIB 2 Interview (9.12.2015) über die erhobenen Missstände in den Wiener muslimischen Kindergärten tätigte, waren bisher nur wenige zu hören. Auch wenn die von ihm in Auftrag gegebene „Studie“ wegen der geringen Anzahl der Daten auf tönernen Füßen steht:  es genügt, dass die Verantwortlichen sich weigerten, die muslimischen Kindergärten überhaupt untersuchen zu lassen und eine solche als einen „Generalverdacht“ zurückweisen. Dass die Wiener Stadtregierung das Problem, mehr noch – die Existenz muslimischer Kindergärten -, überhaupt zu bestreiten versuchte, sollte eigentlich einen Sturm der Entrüstung entfachen. Die überhebliche Reaktion der Wiener Stadträtin Wehsely[13] hat beredt davon Zeugnis abgelegt, wie autoritär die Verwaltung auf Kritik reagiert. Es scheint, man will die Probleme einfach nicht sehen, aber immer, wenn Ideologen am Werk sind, werden die Dinge kompliziert. Es waren bekanntlich kaum einmal die Pragmatiker der Politik, die die größten und irreparabelsten Schäden anrichteten, es waren meist die Ideologen.

Fazit:

Der Mensch ist ein Gefangener einer ihm meist über die Geburt zugewiesenen „kulturellen Schicksalsgemeinschaft“; und er bleibt es auch bis zu einem gewissen Grade. Diese „Gefangenschaft“ ist allerdings nicht nur ein die persönliche Entfaltungsfreiheit einengendes Korsett, sie bietet auch gleichzeitig Sicherheit für die eigenen Lebensentwürfe. Dies dürfte auch der Grund sein, warum der Wunsch diese Gefangenschaft zu  überwinden, sich bei den meisten Menschen nicht besonders auszuprägen scheint. Besonders intensive, direkte Kontakte zu fremden Kulturen werden im Allgemeinen nicht gepflegt. Die Kontakte beschränken sich in der Regel auf organisierte „Fernreisen“, wo „fremde Kultur“  in geschlossener Club-Atmosphäre und in Form eines mehr oder weniger umfangreichen Sigh-seeing –Programms konsumiert wird. Hin und wieder geht man auch noch chinesisch, thailändisch, griechisch oder türkisch essen, und sonst….?  Das Eindringen  anderer Kultur- und Wertvorstellungen in die Sphäre der eigenen, wird – so es einmal unvermeidlich ist – vielfach sogar als Gefahr für die eigene Lebenswelt erfahren. Manchmal zu unrecht, manchmal zu recht. Es wäre ein Fehler jede uns fremde Kultur als Gefahr wahrzunehmen. Vieles kann man als „Bereicherung“ erfahren, einiges birgt Gefahren in sich.  Fremde Kultur- und Wertvorstellungen aber überhaupt nicht daraufhin abprüfen zu dürfen, ob sie im Falle einer „Implementierung“ eine objektive Gefahr  für die eigene Lebenswelt darstellen, wie dies in jüngster Zeit in Hinblick auf den Islam der Fall ist, muss man als leichtfertiges Betreiben des Untergangs dessen bezeichnen, was sich bisher in Europa an Möglichkeiten einer liberalen Lebensgestaltung herausgebildet hat.

Das besondere Moment dieser Entwicklung sollte man darin sehen, dass dieses „Eindringen“ aktuell in einer Weise vollzogen wird, die man einerseits als wenig zurückhaltend, eher als forsch und fordernd bezeichnen muss, die es andererseits den  Kritikern dieser Entwicklung auch besonders schwer macht, weil das „eindringende Moment“ gleichzeitig, als das schutzbedürftige in Erscheinung tritt und sich so gegen Kritik immunisiert. Hinweise auf (ideologische und personelle) Gefährdungselemente werden  daher in der Regel mit Verweis auf die Schutzwürdigkeit als unzulässig, als „Hetze“ gebrandmarkt.

Dabei wird das Problem oft so dargestellt, als ginge diese Gefährdung  ausschließlich von radikalen, gewaltbereiten Personen aus, die terroristische Anschläge oder gar einen „Umsturz“ im Schilde führten. Terroristische Absichten wird man, auch wenn man sie, wie die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, niemals ganz ausschließen kann, nicht automatisch und in jedem Fall unterstellen dürfen. Die latente Gefahr, die allein vom demografischen Aspekt und dem von ihm initiierten vorauseilenden Gehorsam im Sinne eines freundlichen Entgegenkommens der muslimischen Ideologie gegenüber ausgeht, sollte dabei jedoch auch nicht  unterschätzt werden.

Liberalismus, wie er sich in Form einer „offenen Gesellschaft“ zeigt und Islamismus, der sich in der Regel als intolerante Erscheinung präsentiert, sind und bleiben unvereinbar. Europa wird eine unmissverständliche Entscheidung treffen müssen.

Fußnoten:

[1] aus Karl Kraus, „Die letzten Tage der Menschheit“, Ein Wiener hält von einer Bank aus eine Ansprache.

[2] „Volk“ und „Nation“ stehen in enger Verbindung; das führt nicht selten zum synonymen Gebrauch beider Begriffe; auch die semantische Wurzel von Nation – nasci, geboren werden – legt die Vorstellung einer Abstammungsgemeinschaft , die man in älteren Definitionen des Volksbegriffes findet, nahe. […] Nation ist eine Entwicklungsstufe von Gesamtgesellschaften, die sich seit der bürgerlichen Revolution herausbildete: „Dem Mittelalter ist die Nation in unserem Sinne völlig unbekannt, und noch im 18. Jahrhundert erweisen sich die kirchlichen und dynastischen Bindungen in der Politik den nationalen gegenüber als die bei weitem stärkeren.[…] Seit der Französischen Revolution und dem napoleonischen Imperialismus, ursprünglich als Reaktion gegen diesen, haben sich die Nationen in immer wachsenden Maße als die stärksten staatsbildenden Kräfte erwiesen“ (Hermann Heller, Staatslehre, Leiden, 1963, S. 162)

Zu Beginn des 19.Jahrhunderts verstand man unter Nation die durch Bildung und Besitz herrschende Klasse, den besseren, denkenden Teil des Volkes. Im 19.Jahrhundert verliert der Begriff Nation seine partikularistische Bedeutung und bezieht sich auf  ethnische Kollektive, die nicht nur ein ethnisches Gemeinsamkeitsgefühl teilen, sonder politisch-verbandlich als Staaten organisiert sind.“ (vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972. S.242, 528/529)

[3] Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Oxford, 1983, S.55  (* 9. Dezember 1925 in Paris; † 5. November 1995 in Prag) war ein Anthropologe, Soziologe und Philosoph.)

[4] Christian Ortner in der Wiener Zeitung, 11.Dezember 2015

[5] Nationalstaaten schaffen Strukturen beispielsweise insofern, als den Staaten Menschen zuzuordnen sind. Es handelt sich um eine Struktur, die man vielleicht als „bi-polar“ bezeichnen könnte: Einerseits  können Nationalstaaten durch ein Volk (das sich über Geburt, gemeinsame Sprache, gemeinsame Geschichte etc. zusammengehörig  fühlt) konstituiert werden, andererseits konstituieren Nationalstaaten durch ihr Vorhandensein ein Volk, das diese Faktoren aus sich selbst heraus produziert bzw. reproduziert.)

[6] vgl. Robert Nozick, 1938 – 2002,  Anarchy, State and Utopia , 1974

[7] vgl. Amitai Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft, Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, Campus, Frankfurt- New York, 1997

[8] vgl. Manfred Prisching, Bilder des Wohlfahrtsstaates, Metropolis, Marburg 1996

[9] Hermann Heller, Staatslehre, Leiden, 1963, S.261 (* 17. Juli 1891 in Teschen; † 5. November 1933 in Madrid) war ein deutscher Jurist jüdischer Abstammung und Staatsrechtslehrer. Er lehrte an den Universitäten Kiel, Leipzig, Berlin und Frankfurt am Main. Heller prägte in seiner Schrift Rechtsstaat oder Diktatur?  von 1930 den Begriff des sozialen Rechtsstaats.

[10] Friedrich Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, Soziologie inter-ethnischer Beziehungen, Enke, Stuttgart, 1992, S.52

[11] Friedrich Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, Soziologie inter-ethnischer Beziehungen, Enke, Stuttgart, 1992, S.85

[12] vgl. Thomas Meyer, Identitäts-Wahn, Die Popularisierung des kulturellen Unterschieds, Hg. Wilhelm von Sternburg, Aufbau-Verlag, Berlin,  2. Auflage, 1998, S.86

[13] „Herr Minister, bitte!“: Es war einer jener TV-Momente, die man sich merkt. Lachend und in eindeutiger „Geh-bitte“-Tonlage unterbrach die Wiener Sozialstadträtin Sonja Wehsely (SPÖ) bei der Pressekonferenz zu den islamischen Kindergärten Integrationsminister Sebastian Kurz (ÖVP): „Sie haben sich genug profiliert, es geht um Lösungen und um die Kinder.“

Lasst uns vor der eigenen Haustüre kehren!

Zu einem Text von Eren Güvercin  17.11.2015 | 15:23 4

Zeigt nicht mit dem Finger auf Andere!

Paris: Es gibt in Europa eine Ignoranz gegenüber Terror und Gewalt in anderen Teilen der Welt. Aber auch für Muslime ist es Zeit für unangenehme Selbstkritik, meint unser Autor https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/zeigt-nicht-mit-dem-finger-auf-andere

Ein Zitat daraus: „Einige aber, darunter viele Muslime, stellen sich die Frage, warum kollektive Anteilnahme mit den Opfern in Paris herrscht, die täglichen Opfer des IS in der arabischen Welt nur marginal wahrgenommen werden.“

LMPEL_~1Vielleicht könnte man die Frage folgendermaßen beantworten:

Ein Grund dafür, warum die Opfer der arabischen Welt  (angeblich) nur marginal wahrgenommen werden, könnte darin zu finden sein, dass es sich eben um Opfer, (wie der Autor oben selbst schreibt) einer Welt handelt, die vielen tatsächlich als eine „andere“ erscheint: die „arabische Welt“ eben. Diese Differenz anzunehmen, erscheint durchaus vertretbar. Ich möchte auch nicht, dass sich die „arabische Welt“  in die Angelegenheiten Europas einmischt. Es gäbe ja auch gar keinen Grund für irgendwelche Opfer des westlichen Lebens-Terrors(Opfer des Ku-Klux-Klan, Opfer rechtsradikaler Umtriebe, Opfer der Bader-Meinhof-Bande, der Rote-Armee-Fraktion und was es da alles gibt und gegeben hat) Mitleidskundgebungen aus der „arabischen Welt“ einzufordern. Für mich jedenfalls, und offensichtlich nicht nur für mich, i s t  die „arabische Welt“ tatsächlich eine „andere“; eine, mit anderen Wertvorstellungen, anderen Lebenshaltungen und anderen Lebensentwürfen, in die sich die „westliche Welt“ nicht einzumischen hat. Dass mein persönliches Mitgefühl auch den arabischen,  a l l e n  Opfern gilt, bleibt davon unberührt. Das aktuelle „Problem“ aber müssen die Muslime, die „arabische Welt“ für sich und unter sich klären.  (Deswegen halte ich auch nichts davon, dass sich die Großmächte die Funktion der „Weltpolizei“ anmaßen und sich immer wieder in Dinge einmischen, die sie eigentlich nichts angehen.

Es genügt, wenn die „westliche Welt“ ihre Angelegenheiten in Ordnung bringt. Das erfordert Mühe genug!

„In der kommenden Ära ist es also zur Vermeidung großer Kriege zwischen den Kulturen erforderlich, dass Kernstaaten davon absehen, bei Konflikten in anderen Kulturen zu intervenieren. Das ist eine Wahrheit, die zu akzeptieren manchen Staaten, besonders den USA, schwerfallen wird.“ (Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, S.522)

——————————

Fußnote:

Die Behauptung der „marginalen Wahrnehmung“ bleibt hier ungeprüft und unwidersprochen, obwohl sie nicht durch mehr als die  „Wahrnehmung“ des Autors belegt werden kann,  darüber hinaus ist  „Wahrnehmung“ nicht unbedingt dadurch zu messen, dass man „Reaktionen“ auf vermutete Wahrnehmungen misst – aber das wäre eine andere Diskussion, die zu führen, das grundsätzliche Problem, das hier angesprochen ist, nicht entscheidend beeinflussen würde.

Willkommenskultur oder doch Nekrophilie?

Willkommenskultur oder doch Nekrophilie?

„Woher die Verachtung des Eigenen und die unkritische Verherrlichung des Fremden rühren, könnten wohl nur Psychiater herausfinden.“

Das Zitat stammt aus einem durchaus lesenswerten Text, siehe: http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/willkommen_und_abschied

Hyronimus Bosch - Die sieben Todsünden und die vier Letzten Dinge
Hyronimus Bosch – Die sieben Todsünden und die vier Letzten Dinge

Es scheint tatsächlich so zu sein, dass von vielen gerade das als erstrebenswert, beachtenswert, unterstützenswert betrachtet wird, was als „nicht-heimisch“ angesehen werden kann.

Die besten Käse sind aus dem Ausland, die besten Weine sowieso, selbst das Joghurt ist uns aus Deutschland lieber.

Wie man aus zahlreichen historischen Beispielen aus Wissenschaft und Kultur, selbst aus dem Sport weiß, gilt der Prophet im eigenen Land wenig. Erst wenn er es im Ausland zu Bedeutung und Ansehen gebracht hat, also irgendwie „fremd“ geworden ist,  ist die Heimat bereit, ihn entsprechend zu würdigen.

Das Heimische ist nicht nur langweilig, es ist im Falle Österreichs in überreichem Maße durch seine „jüngste Geschichte“ belastet. Zu allgegenwärtig sind die Fotos in Mutters Schuhkarton von rechtsgescheitelten Buben in kurzen Hosen und weißen Stutzen, gegenwärtig sind die Steirerhüte und Trachtenjanker und die handgenähten Haferlschuhe, die die Last der Geschichte nun zu tragen haben.

Die langen, fruchtlosen Diskussionen darüber, ob man das Wort „Heimat“ überhaupt noch verwenden dürfe, ohne ein Sakrileg zu begehen, die ganze Künstlernächte literarisch füllten, sind zwar schon verhallt, ihre Nachwirkungen treffen uns täglich. Einerseits kann man eine Renaissance des Heimatbegriffs und in deren Gefolge eine verstärkte Hinwendung zur Regionalität feststellen, was sich unter anderem in einer starken Wiederbelebung der Trachtenmode, der Wiedereinführung von Perchtenläufen in „Hinterbumskraxn“, nicht zuletzt in der steigenden Beliebtheit der Volks- und volkstümlichen Musik äußert, andererseits gibt es immer noch starke Ressentiments diesem Begriff gegenüber. Heimat ist immer noch etwas Enges, räumlich und geistig, das vom Dunst des „Völkischen“ noch nicht ganz befreit erscheint; ein Massiv, immer noch von den dunklen Wolken der deutsch-österreichischen Geschichtsbetrachtung umgeben.

Nicht umsonst reisen wir in die Welt hinaus. Das Fremde, das Unbekannte zieht uns an. In das Fremde kann man, weil die Zeit nicht reicht, es genau kennenzulernen, es zu einem „Bekannten“ zu machen,  alle die Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen hineinprojizieren, die wir an all dem Bekannten schon x-mal abprallen haben sehen müssen.

Das Fremde hingegen erscheint uns freundlich, bietet uns Abwechslung, hebt uns aus dem Alltag heraus, besser noch als ein Kinobesuch, ein Konzert oder eine Opernpremiere.

Wir gehen thailändisch, chinesisch, wir gehen indisch essen; Schweinsbraten ist ungesund. Ein Genuss, natürlich. Manche, die nur wenig weiblichen Widerspruch ertragen, holen sich ihre Frau aus Thailand. Möglichst jung und sexy, oder was sie halt dafür halten. Was macht es aus, dass man sich kulturell nicht versteht, wenn man selbst kulturlos ist?

Der / das Fremde ist edel. Um das festzustellen, ist es angebracht, wenig von ihm zu wissen. Allein, dass es fremd ist, genügt;  fremd macht bedeutsam.

„Der edle Wilde“ der Romantik ist es, der nicht nur bei Rousseau, sondern auch in vielen romantischen Köpfen der Gegenwart sein Reservat gefunden hat.

Eine Rückbesinnung auf die Kolonisationsreisen unserer Kindheitsgehirne: Robinson Crusoes Verhältnis zu Freitag, Tarzan und Jane, der edle Häuptling der Apachen Winnetou und sein Blutsbruder Old Shatterhand, das sind die einzig wahren und edlen Geschichten. Geschichten, die in uns eingesickert sind und dort ihre Wirkung entfachen. Dass die dunklen Gestalten der Raunächte in unseren Köpfen ebenso herumspuken, wer will das leugnen.

Warum es einmal das eine, das andere Mal das andere ist, das Überhand gewinnt, könnte man den Psychologen zur Klärung vorlegen. Der Soziologe kann das nur in Bezug zu den sozialen, gesellschaftlichen Umständen bearbeiten. Die sozialen Auswirkungen dieses Phänomens sind evident: sie äußern sich einmal als romantische Willkommenskultur, einmal als düstere Fremdenfeindlichkeit; zwei Antagonismen, die einander unversöhnlich gegenüberstehen.  Aktuell spürt man das in der Debatte rund um die Krise, die Europa nun erreicht hat; eine Krise, die die einen, im Glauben an die Idee des edlen Wilden, Flüchtlingskrise nennen; die anderen, die diesen Glauben nicht zu teilen vermögen, verwenden dafür den bedrohlichen Terminus Völkerwanderung. Beide sprechen von denselben Ereignissen.

Der eigene Standpunkt, die eigene Lebenswelt prägt unsere Vorstellung dessen, was wir Wirklichkeit nennen. Und manchmal sehen wir nur das, was wir zu sehen wünschen. Das Phänomen der selektiven Wahrnehmung ist wirksam und man kann sich ihm kaum entziehen.

Etwas hilft: Die alte Poppersche Regel: Versuche nicht, Deine These zu verifizieren, versuche sie zu falsifizieren, mit aller Kraft, mit dem ganzen Geschick, das dem Verstand zur Verfügung steht. Wenn die These auch dann noch nicht kippt, halte sie solange aufrecht, bis vielleicht ein anderer sie widerlegt. Dann erst verwirf sie.

Es gibt immer nur Indizien für die Wahrheit, niemals gibt es Beweise. Solche Indizien für eine rückhaltlose Willkommenskultur, wie sie von einigen der Zeitgenossen zelebriert wird, könnten von einer allgemeinen, nicht ungefährlichen, weil alles relativierenden Geisteshaltung bestimmt sein, die bis weit in die wissenschaftliche Diskussion hinein vorgedrungen ist. Der Postmodernismus.

Er, der allen Diskursarten (Wissenschaft, Bildende Kunst, Literatur, Religion, Esoterik, etc.) dieselbe Wahrheitsfindungskompetenz einräumt und gleichzeitig die Wahrheit an sich als relativ in Frage stellt, zeigt seine Krallen. Die Wahrheit ist allem Anschein zum Trotz jedoch nie relativ. Die Wahrheit ist die Wahrheit, auch wenn man nie sagen kann, wann man sie tatsächlich erreicht hat.

Der Postmodernismus aber hat die Zertrümmerung der Wahrheit bewusst oder unbewusst in Kauf genommen, und er hat andere dazu verführt, die Relativierung der Wahrheit besonders in außerwissenschaftlichen Bereichen zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Wahrheitsbegriffes hochzustilisieren. Dadurch wurde ein geistiger Rückschritt hin zu vormodernen, esoterischen Gebräuchen, Hexenglauben, Schamanismus, Tarotkartenlegen, Sternzeichendeutung, Horoskop-Glauben und anderen Wundergläubigkeiten begünstig; ein Rückschritt wurde vollzogen, der von den Vermittlern des allgemeinen Kulturauftrages im ORF mit Begeisterung unter die Leute gebracht wird. Alles das trägt seinen Teil dazu bei, vormoderne Gesellschaften und um solche handelt es sich größtenteils auch bei jenen, deren Staatsreligion der Islam darstellt, als besonders anziehend zu empfinden und die damit verbundenen Risiken auszublenden.

Dass auch die gruselige Seite des Islams, (das Strafrecht der Scharia, die Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit, die körperlichen Beuge-Strafen, die Unterdrückung der Frauen, die arrangierten Kinderheiraten u.n.v.a.m.) die zweifellos jeden aufgeklärten Menschen mit Abscheu erfüllt, für manche hingegen doch unbewusst einen nicht zu unterschätzenden Reiz zu entfalten in der Lage ist, könnte mit einem Phänomen zusammenhängen, das Sigmund Freud den „Todestrieb“ genannt hat. Angeblich fühlt sich der Österreicher nirgends so wohl, wie auf dem Zentralfriedhof. Im Moder der Zeit sein Glück finden, scheint zu einer modernen Haltung zu werden.

Die bedeutendsten Leistungen in Wissenschaft und Kultur sind wohl nicht zufällig im „fin de siècle“ erbracht worden. Der Österreicher braucht den Kometen, die Völkerwanderung, die Untergangs- , die Endzeitstimmung, dann erst erstrahlt er in vollem Glanz.

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*„Mit einer schwarzen Augenbinde, wie zum Tode Verurteilte zum Schafott geführt werden, lege ich mich oftmals ins Bett und schlafe ein, bis mich der erste Todestraum aufschreckt.“       Aus: Josef Winkler, „Friedhof der bitteren Orangen“

 

 

 

 

Der Mensch, nicht die Gesellschaft ist das Maß der Dinge

KohrÜber das Versagen der Europäischen Union wurde schon viel gesagt und geschrieben. Man kann dem kaum noch etwas wirklich Neues hinzufügen. Dennoch ergeben sich immer wieder neue, berücksichtigungswürdige Aspekte, die angesprochen werden müssen. Die  mangelnde Fähigkeit zur Einigung der Mitgliedsstaaten auf ein Vorgehen die aktuellen Immigrationsprobleme betreffend, die derzeit die allgemeine Diskussion dominieren, wirft einige grundsätzliche Fragen auf. Denn es zeigt sich einmal mehr, dass die Europäische Union nicht in der Lage ist, die auftretenden Probleme innerhalb des notwendigen Zeithorizontes zu beherrschen. Im Gegenteil: Sie wird von den Problemen beherrscht.

Die Mär vom „Friedensengel“ beginnt sich angesichts der Eskalation der Worte  in Luft aufzulösen, ebenso wie sich die Mär vom „Engel des Wohlstandes“ in Luft aufzulösen beginnt, die Mär von der Ausweitung des „Sozialstaates“ wurde ohnehin lange schon ad acta gelegt.

Liegt es am mangelnden Willen, liegt es an einer „Verschwörung“ oder einfach an „Unfähigkeit“? Vielleicht ist es eine Mischung aus allem, wer weiß?

Eines scheint mir sicher:

Die Europäische Union ist längst zu groß geworden. Diese Feststellung bezieht nicht allein auf die Anzahl ihrer Mitglieder, sie bezieht sich auch und in erster Linie auf den Umfang ihrer Aufgaben, die ihr zur Bewältigung zugewiesen werden.

Die Tatsache, dass die von ihr geschaffene gemeinsame Währung eigentlich nicht funktioniert und nur unter Aufbietung aller Kräfte am Leben erhalten werden kann,  dass die Sicherung der Außengrenzen nicht funktioniert, dass die Abkommen zur Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftskonzeptes, eines dem Bürger dienenden Bankenwesens, des sozialen Ausgleichs nicht funktionieren, dass das Dublin- und das Schengen-Abkommen nicht funktionieren, Schuldenobergrenzen nicht eingehalten werden (vieles andere mehr gibt es, das es noch zu nennen wäre), zeigt ihr  Versagen.

Dieses Versagen kann nicht behoben werden, indem man versucht die Aufgaben und Befugnisse der EU noch weiter auszuweiten, ihr noch mehr Befugnisse einzuräumen, sie zu einer Zentralgewalt zu machen. Dies würde unweigerlich zu noch mehr Versagen führen. Abgesehen davon kann uns, die wir stolz auf die Vielfalt sein wollen, ein zentralistisch gestaltetes Europa als Endprodukt der Entwicklung doch nicht erstrebenswert erscheinen. Auch wenn dieses Ziel anscheinend gerade von jenen mit Nachdruck verfolgt zu werden scheint, deren politisches Credo sich sonst so gerne auf diese Vielfalt beruft.

Die Eigenständigkeit der Nationalstaaten, das Subsidiaritätsprinzip, die Aufwertung der Regionen zu bestimmenden Einheiten des täglichen Lebens, sind nicht mehr als ein Versprechen gewesen, an das sich aktuell keiner mehr erinnern will?

Die „Zentralisten“ innerhalb der EU haben offensichtlich längst die Macht übernommen.

Daran aber wird die Sache scheitern.

Schon aus diesen Gründen wäre es vielleicht nicht ganz uninteressant wieder einmal die Bücher eines fast vergessenen Denkers aus dem Regal zu nehmen und aufmerksam zu studieren. Man muss nicht allen seinen Thesen zustimmen. Es genügt, ihm dort zu folgen, wo er ohne Zweifel Recht hat:

„Da das große Problem der Gegenwart also eine Frage des Maßstabes ist, kommen wir zwangsläufig wieder zu dem Ergebnis, daß die Rettung in der dem heute maßgeblichen Trend entgegengesetzten Richtung liegt: in der Wiederherstellung der optimalen sozialen Größe. Statt auf dem Wege der wirtschaftlichen Integration und der politischen Zusammenschlüsse weiterzugehen, auf dem mit den schon heute übergroßen sozialen Einheiten auch ihre Probleme größer statt geringer werden, müssen wir umkehren. Nicht Vereinigung, sondern Spaltung dürfte uns den Weg in eine Zukunft weisen, deren Proportionen unseren Kräften angemessen sein würden. Und angemessen sind sie nur, solange die Gesellschaft dem Menschen angepaßt wird und nicht der Mensch der Gesellschaft. Denn der Mensch, nicht die Gesellschaft ist das Maß aller Dinge.“

Leopold Kohr, Die Überentwickelten Nationen, Verlag Alfred Winter, Salzburg 1983, S.113f; Originalausgabe: „The Overdeveloped Nations“, 1962

Leopold Kohr (* 5. Oktober 1909 in Oberndorf bei Salzburg; † 26. Februar 1994 in Gloucester, England) war Nationalökonom, Jurist, Staatswissenschaftler und Philosoph. Inhaltlich propagierte er Dezentralisierung sozialer Organisationen und Gruppen auf eine Größe in der Funktion noch möglich ist, aber gleichzeitig den Mitgliedern eine Überschaubarkeit erlaubt. Kohr war Anarchist und Vordenker der Umweltbewegung. Er erhielt 1983 den „Alternativen Nobelpreis“. (Wikipedia)

Tabu – ein unabgeschlossener Exkurs

Nach vielen missglückten, nicht selten blutig verlaufenden Versuchen, sei der Mensch mit Hilfe dessen, was später Aufklärung genannt wurde, aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit herausgetreten, behaupten Optimisten; erst nun bediene er sich seines Verstandes, ohne die Anleitung anderer zu bedürfen. Nach Jahren der Finsternis habe er den Ballast mystisch verklärter Weltsicht zu Gunsten einer offenen Weltinterpretation abgeworfen. Das Zeitalter der Denkverbote sei nun endgültig überwunden.

Mit diesem Schritt erst sei er ins Zeitalter der politischen Teilhabe, der freien wissenschaftlichen Forschung, der sexuellen Revolution, ins Zeitalter der Gleichstellung der Frau vorangeschritten.

Der „Freiheit in Vernunft“ seien nun endlich keine Grenzen mehr gesetzt. Eine vorurteilslose Moderne sei angebrochen und die „geistige Enge“ der Welt der Vorväter endgültig überwunden.

Das wird uns seit Jahren von den Apologeten des menschlichen Fortschritts weis zu machen versucht; manche dieser „Fortschrittsgeister“ seien sogar noch viel weiter in der Zeit, hätten die Moderne und ihre Rationalitätsansprüche hinter sich gelassen, wären bereits in der „Nach-Moderne“ gelandet.

Nur wir – übrigen – säßen immer noch da in der „Moderne“ und kennten uns nicht aus, ohne Vorstellung davon, was das soll mit „Dekonstruktion“ und dem „Ende der Großen Erzählungen“ und der Gleichrangigkeit der Erzählformen. Die Wirklichkeit hat wahrlich noch andere Seiten. Das Pendel schwingt zurück! Das ist seine Natur! Große Teile der Gesellschaften bewegen sich geistig kulturell noch immer – vielleicht soll man besser sagen: wieder – in der „Vormoderne“!

Keine Rede kann sein davon, dass Rationalität in allen Belangen vorherrsche; keine Rede kann sein davon, die Welt hätte das „magische Zeitalter“, die Herrschaft des Tabus[1] überwunden!

Viele Themen, die die Menschen beschäftigen, unterliegen auch heute noch sprachlichen und gedanklichen Reglementierungen. Oft scheint genau festgelegt, wer, wo, wann, welche Themen in welcher Form zur Sprache bringen darf. Bereiche der Wohlstandsicherung und Einkommensverteilung, Bereiche des Aufeinanderprallens kultureller – religiöser Unterschiede, die Auseinandersetzungen über Akzeptanz oder Nichtakzeptanz ethnischer, politischer, sprachlicher Minderheiten, die Integration von Ausländern scheinen nicht nur besonders heikel zu sein, sondern hinsichtlich ihrer sprachlichen – und damit gedanklichen – Bearbeitung zahlreichen Tabuisierungen zu unterliegen.

Das Schlagwort von der „political correctness“ ist jedermann geläufig. Ein Kampfbegriff für seine Befürworter, die angeblich alles und jedes einer Art von sprachlichem Naturschutz unterwerfen möchten; ein Kampfbegriff aber auch für seine Gegner, die behaupten, heute würden im Namen der „political correctness“  in rigidester Form Denkverbote eingefordert, die jeden freien, nicht im Mainstream verlaufenden Gedanken schon im Keim zu ersticken drohen.

Während die Formen dieser „Sprech- und Schreibvorschriften“ von „pressure groups“ immer wieder neu ausgestaltet und mit Eifer kontrolliert und sanktioniert zu werden scheinen, gibt es auch Konventionen der Sprache und damit des Denkens, die sich darauf gründen, „dass es sich“ – wie der Volksmund sagt – „eben nicht schickt“. Die Begründung dafür, was sich „nicht schickt“ findet sich in den Traditionen, die sich auch in Form von Tabuvorschriften zeigen. Darüber hinaus bedürfen sie keiner Begründung, sie benötigen auch keines Rekurses auf eine Gottheit. Das Tabu verbietet von selbst.
James George Frazer (1854 – 1941), neben Bronislaw Malinowski (1884 – 1942) und Marcel Mauss (1872 – 1950) einer der erfolgreichsten Erforscher menschlicher Verhaltensweisen, den die jüngere Vergangenheit hervorgebracht hat, sieht das „Tabu“ als eine Sonderform der Magie, welcher wiederum der Gedanke zugrunde liegt, dass sich alle Vorgänge in der Welt in einen vom Menschen beeinflussbaren Ursache- und Wirkungszusammenhang bringen lassen. „In der Tat erscheint die ganze Lehre des Tabu, oder wenigstens ein großer Teil derselben, nur als eine besondere Anwendung der sympathetischen Magie mit ihren beiden Gesetzen der Ähnlichkeit und der Übertragung. […] Er (der Mensch) denkt, wenn er in einer bestimmten Weise handelt, werden sich unweigerlich bestimmte Folgen einstellen auf Grund des einen oder andern dieser Gesetze. Scheint es ihm nun als könnten ihm die Folgen einer bestimmten Handlung unangenehm oder gefährlich werden, so hütet er sich naturgemäß, so zu handeln, um sich diesen Folgen nicht auszusetzen. Mit anderen Worten, er vermeidet alles, was ihm nach seinen irrtümlichen Begriffen von Ursache und Wirkung schaden könnte. Kurz er unterwirft sich einem Tabu. Insofern ist also Tabu eine negative Anwendung der praktischen Magie.“[2] 

Vormoderne Gesellschaften, das Spezialgebiet Frazers, der sich sein Wissen nicht über Feldforschung erwarb, wie es Malinowsky und Mauss taten, sondern zahllose Bibliotheken durchforstete, waren – so meint er – schon aufgrund ihrer geringen Größe und der darauf aufbauenden strengeren sozialen Kontrolle viel besser in der Lage, ein einheitliches, jedes Gesellschaftsmitglied einbindendes Wertesystem auszubilden, als das für unsere heutigen modernen Gesellschaften der Fall ist.  Demgemäß waren auch die tabuisierten Bereiche dieser Gesellschaften einheitlicher und damit klarer erkennbar. Es gab kaum Zweifel darüber, was tabu ist. Heute sind die Tabus weniger eindeutig, betreffen oft auch nur Teile der Gesellschaft und treten manchmal in den unglaublichsten „Verkleidungen“ an das Licht der Öffentlichkeit. Es ist noch nicht lange her, da beherrschte ein „Fleischskandal“ die österreichische und die deutsche Presse. Der Hersteller von Tiefkühl-Fertig-Nahrung hatte in seine Produkte Pferdefleisch statt des vorgesehenen Rindfleisches verarbeitet und dies nicht in der Produktbeschreibung ausgewiesen. Ein Skandal? Es ging, wie viele Interviews in Straßenbefragungen zeigten, die damals in den Medien veröffentlicht wurden, Herrn und Frau Österreicher in erster Linie weniger um die unzutreffende Produktbeschreibung, als darum, dass die Menschen durch die falsche Deklarierung dazu gebracht worden waren, unwissentlich eine Art von Fleisch – Pferdefleisch – zu verzehren, das für die meisten Menschen „der Sitte nach“ als nicht zum Verzehr bestimmt klassifiziert ist. Pferde gelten in vielen Kulturen – so auch in unserer mitteleuropäischen Kultur – als „besondere Tiere“. Man nutzt sie zwar seit altersher zu schwerer Arbeit, lässt sie in Waldbeständen, die geschont werden sollen, anstelle schwerer Erntemaschinen, Baumstämme „rücken“, sieht in ihnen aber dennoch ganz besondere Wesen und bricht nicht selten in Schwärmerei ob ihrer Schönheit und Eleganz aus. Hat man die Möglichkeit einer Pferdeauktion beizuwohnen, könnte man meinen, sie wären nur dazu geboren, den ästhetischen Ansprüchen des Menschen genüge zu tun. Arabische Poeten besingen seit Jahrhunderten ihre Intelligenz, Schönheit und Sanftmut, sehen sie gar „dem Winde gleich“.

Wie viele andere Tiere, wird auch das Pferd gerne „ver-menschlicht“. Manche Menschen behaupten sogar, dass man mit Pferden reden könne, wie man mit Menschen redet; und sie würden antworten, wenn auch nur in der ihnen adäquaten Form. Alles das verleihe ihnen den Status des „Besonderen“.

Während das Schweinsschnitzel besonders in panierter Form keinen Gedanken an Haltungsbedingungen oder Intelligenz  des Hausschweines provoziert, laufen Tierschützer Sturm, wenn „der alten Mähre“ der Schlachthof droht. Ihr das Gnadenbrot zu verweigern, stellt ein Sakrileg dar.

Die besonders glücklichen Exemplare heimischer Tiergattungen erwartet mit ein bisschen Glück vielleicht sogar ein Lebensabend in Luxus auf „Gut Aiderbichl“, einschließlich eines Fernsehauftritts.

Werden diese privilegierten Vertreter ihrer Rasse krank und ist gar keine Hilfe mehr möglich, holt man den Tierarzt und erwartet, dass dieser sie möglichst schmerzlos „einschläfert“. Dass man sich damit eines „Euphemismus“ bedient und nicht von der „Todesspritze“ spricht, spricht für sich.

Die auserwählten „Lieblinge“ ihrer Besitzer werden sodann in einem Tierfriedhof,  mit eigenem Grab und Grabstein beigesetzt, man streut ihnen Blumen, lässt vielleicht sogar eine Messe lesen und schenkt ihnen gerne Aufmerksamkeit über ihren Tod hinaus.

Mit Abscheu betrachtet man jene, die die „Kreatur“ angeblich rücksichtslos als „Sport-  oder Arbeitsgerät“ benützen, und das christliche Wort von „macht Euch die Erde untertan“ allzu wörtlich nehmen.

Kaum jemand von ihnen käme auf die Idee, vom Tier dasselbe zu verlangen, was das Leben ihnen abverlangt: Für das „tägliche Brot“ eine adäquate Leistung zu erbringen. Die Industrie rund um Tiernahrung, Tierbekleidung, Tierkosmetik, Tiergesundheit setzt Milliarden um. Es gibt nichts, dass sich, so es in Zusammenhang mit „unseren Lieblingen“ steht, nicht verkaufen ließe. Heerscharen von Homöopathen, Tierpsychologen, Tierkosmetikerinnen, Tierbestatter, unzählige Vereine für Vier Pfoten, Tierschutzhäuser, Tierspitäler sorgen für das Wohlergehen, der meist vierbeinigen Lieblinge. Und dann mischt jemand Pferdefleisch in eine Tiefkühl-Lasagne und deklariert das nicht! „Shame!“

Wie groß muss der Schmerz der Erkenntnis für jene Idealisten unter den Tierschützern gewesen sein, die im Tier ein dem Menschen gleichwertiges Lebewesen sehen, als sie erkennen mussten, dass sie ihre verehrten Lieblinge in Form einer Fertigspeise nicht nur gegessen, sondern auch verdaut und ausgeschieden haben?

Skandalös! Der Aufschrei der Pferdefreunde, ja der Tierliebhaber generell, vereint im Chor mit ausgewiesenen „Deklarierungsfetischisten“ war vorhersehbar und unausweichlich! Manchmal ergeben sich eben ganz kuriose Allianzen.

Dennoch sollte man die „Realität“ nicht ganz aus dem Auge verlieren. Fakt ist: ein großer Teil der jährlichen Pferde-Nachzucht, vor allem jener Anteil, der weder für die Zucht noch für den Sport geeignet erscheint, wird als Schlachtvieh verkauft und mit Genuss auch gegessen. Die Tatsache, dass Pferde nicht nur edle Tiere sind, sondern sich auch hervorragend dazu eignen, den Bedarf des Menschen an tierischem Eiweiß zu decken; also Tiere sind wie andere auch, deren Fleisch entsprechend bearbeitet hervorragend schmeckt, wurde durch den „Skandal“ auch jenen wieder bewusst gemacht, die das weiterhin lieber verdrängt hätten.

Je intensiver und erfolgreicher die Verdrängungsmechanismen ihre Arbeit zu  verrichten geeignet sind, desto größer wird der „Schock“ ausgefallen sein. Pferdefleisch ist bei uns (fast) tabu! Sein Verzehr also ein Skandal! Ebenso wie es ein Skandal wäre Hunde oder Katzen zu essen, Singvögel, Frösche, Weinbergschnecken, Käfer etc.

Aber wie heißt es? „Andere Länder, andere Sitten!“

Ein  über Speisen gelegtes Tabu findet sich an vielen Orten in dieser Welt. Bei uns ist es eben u.a. Pferdefleisch.

Auf Madagaskar, so schreibt James Frazer, ohne seine Informationsquelle für diesen Fall offen zu legen, sei es Soldaten [höchstwahrscheinlich bis zum frühen 20. Jahrhundert; Anm. d. Verf.] verboten gewesen, Igel zu essen. Man fürchtete, die Schreckhaftigkeit der Igel und ihre Gewohnheit, sich bei drohender Gefahr zu einem Ball zusammenzurollen, könne sich auf die Soldaten übertragen und ihren Mut schwächen.

Die Analyse dieser Beobachtung zeigt einerseits eine Art von „homöopathischer Magie“ (Gleiches wird durch Gleiches hervorgerufen) andererseits aber auch Merkmale „sympathetischer Magie“, weil es dabei auch um eine Art von Übertragung durch Berührung geht, die sich im speziellen Fall durch das „Verspeisen“ des Tieres manifestiert. Was aber hat diese Kategorisierung mit der angeblichen Tabuisierung des Pferdefleischs zu tun? Wenn man schon „Übertragung“ von Eigenschaften in Form von sympathetischer oder homoöpathischer Magie fürchte, wie oben beschrieben, so bestehe doch, könnte man dem entgegenhalten, überhaupt kein Anlass zu Befürchtungen. Pferde seien schnell, schön, ausdauernd, elegant und sogar in den klassischen Mythologien präsent. Die Furcht vor „Übertragung“, könnte in diesem Fall offensichtlich kaum eine negative Rolle spielen. Hier geht es um etwas anderes. Hier geht es um ein Phänomen, das die ansonsten so oft zutreffende Frazersche Kategorisierung nicht einschließt. Es gibt gute Gründe, einen anderen Aspekt dieser das Pferdefleisch betreffenden Haltung zu untersuchen. Geht es  vielleicht um eine hehre Eigenschaft des Menschen, sich anderen in besonderer Form zugetan zu fühlen? Geht es vielleicht um so etwas ähnliches wie „Freundschaft“ und ihre Sublimierung ? Vielleicht sogar im Zusammenspiel mit einem Manko an alltäglicher Naturerfahrung?

Es könnte ja sein, dass im modernen urban-geprägten Großstadtmenschen eine unerfüllte Sehnsucht nach Natur am Werk ist, die auf diese Weise ausgelebt werden möchte. Aus welchem Grunde sind die militantesten Hundefreunde wohl in der Großstadt zu Hause?

Der moderne Stadtmensch hat die Bindung zur Natur längst verloren. Wird vielleicht dadurch, dass man sich einen Hund hält, versucht, dieses Manko auszugleichen? Dennoch erscheint ihm, dem Urbanen, alles Natürliche unnatürlich. Das Tier  ist für den urbanen Menschen kein Tier mehr, sondern „Mensch-Ersatz“; der Urbane, in dessen Wohnung es gemütlich warm wird, ohne dass das Entzünden eines Feuers erforderlich gewesen wäre, der klimatisch bedingte Temperaturschwankungen vermittels Thermostats und Klimaanlage zum Verschwinden bringt, der das Wetter nur mehr als lästige Begleiterscheinung beim Wechsel von einem Großkaufhaus zum anderen wahrnimmt, so die beiden Gebäudekomplexe nicht ohnehin durch einen unterirdischen oder wenigstens überdachten, klimatisierten Korridor verbunden sind.

Die Natur wird oft nur mehr  als Fernsehereignis einer  „Universumfolge“ oder als Hochglanz-Prospekt des Reiseveranstalters wahrgenommen und nicht mehr als anstrengendes Unternehmen das einiges Stehvermögen abverlangt.

Auch die zunehmende Vereinsamung der Stadtbevölkerung könnte ins Treffen geführt werden. Die Anzahl der Tierhalter in den Großstädten wächst jedenfalls beständig. So könnte ein Erklärungsmodell Berechtigung erlangen, das die Tabuisierung des Pferdefleischs durch einen Teil der Bevölkerung mit einem Mangel an Naturerlebnis und menschlicher Zuwendung in Zusammenhang stellt. An die Stelle des menschlichen Freundes tritt das Pferd und deckt so beides ab, das Naturerlebnis und die mangelnde menschliche Zuwendung.  Einen „Freund“ verzehrt man nicht, auch dann nicht, wenn er in Form eines „Stellvertreters“ in Erscheinung tritt.

Man sieht, in unseren heutigen von differenzierten Wertesystemen getragenen pluralistischen, urban-technologistischen Gesellschaften ist auch die Sache mit den Tabus komplizierter geworden.

Tabus leben auch davon, dass „innere Mechanismen“ ihre Einhaltung überwachen. Tabus sind dem Menschen also durch Erziehung von frühester Kindheit an, „eingeschrieben“; dies bewirkt, dass eine Kontrolle von außen vielfach gar nicht erforderlich ist, weil eine Übertretung des Tabus automatisch zu einem  Gewissenskonflikt führt, den der Mensch zu vermeiden sucht, weil dabei zumindest ein Gefühl des Unwohlseins entsteht.

Für den Fall, dass diese intrinsische Kontrolle nicht funktioniert, wirken Kontrollen von außen, um das Tabu zu stabilisieren. Nicht immer genügen Konventionen, damit Tabus auch wirklich eingehalten werden. Manchmal bedarf es massiver Drohungen, manchmal bedarf es strenger Sanktionen, die von „Liebesentzug“ bis zur „Steinigung“ reichen können.

Hin und wieder aber müssen „Ausreißer“ geduldet werden, weil sich jede Gesellschaft, verstrickt sie sich in andauernde Sanktionierungen, selbst aufreiben würde. Das beschränkte Gewähren  von „tolerablen“ Tabubrüchen erfolgt also auch in gesellschaftlichem Eigeninteresse.

Andererseits kann sich keine Gesellschaft erlauben, dass ihre Tabus nach Belieben gebrochen werden, ohne dass Sanktionen folgen. Verzichtet sie darauf, auf Einhaltung ihrer Vorschriften zu drängen, so ist sie in ihrem Bestand gefährdet. Es ist eine Frage des Maßes; und es ist eine Frage der Möglichkeiten. Die Relevanz, die ein Tabu für die Gesellschaft hat, lässt sich einerseits an der Härte der zu erwartenden Sanktionen messen, die bei Verletzungshandlungen zu erwarten sind, andererseits stellt auch die Anzahl der dem Tabu unterworfenen Menschen eine Maßzahl für seine Bedeutung dar. So finden sich einerseits Tabus, die grundsätzlich für alle Mitglieder einer Gemeinschaft gelten – das „Tötungsverbot“ für Artgenossen beispielsweise – daneben finden sich aber auch solche, die nur für bestimmte Gruppen in Geltung sind. Am Karfreitag Fleisch zu essen, stellt für evangelische Christen beispielsweise kein Tabu dar, für katholische hingegen schon. Manche Tabus gelten sogar nur für einzelne Personen; so herrscht innerhalb der politischen Community Österreichs grundsätzlich Einigkeit darüber, dass eine einseitige Parteinahme des österreichischen Bundespräsidenten in Fragen des politischen Tagesgeschäfts einem Tabu unterworfen ist. Tabus und ihre Einhaltung spielen, wie gezeigt wurde, auch in „aufgeklärten Gesellschaften“ eine wichtige die Gesellschaft stabilisierende Rolle. Die Paradoxie, die die dem Tabu zugrunde liegende Stabilisierungsfunktion betrifft, zeigt sich aber dann besonders deutlich, wenn man die Folgen von Tabubrüchen im einzelnen untersucht.

Dann zeigt sich nämlich, dass das Brechen von Tabus für eine Gesellschaft nicht nur gefährliche, destabilisierende Wirkungen zeigt, sondern  auch für die Weiterentwicklung und Erneuerung von Gesellschaften von positiver Bedeutung sein kann. Einer der einprägsamsten und wohl bekanntesten Tabubrüche im Bereich der Wissenschaft dürfte dem Astronomen Galileo Galilei gelungen sein, der sehr zum Missfallen der Kirche das herrschende Weltbild seiner Zeit, das die Erde als Mittelpunkt des Universums sah, so ins Wanken brachte, dass letztlich die Idee der bevorzugten Stellung des Menschen im „göttlichen Schöpfungsgeschehen“ aufgegeben werden musste und die Theologie die ihr zugewiesene Vormachtstellung im Wissenschaftsbetrieb verlor. Die Wichtigkeit und die anhaltende Aktualität dieser längst vergangenen Tabubrüche lassen sich auch daran erkennen, dass die röm.kath.Kirche bis zum Jahr 1992, also fast 400 Jahre Bedenkzeit für die Rehabilitation Galileis benötigte andererseits aber die Evolutionslehre Darwins in vereinzelten Kirchengemeinden der USA immer noch in Konkurrenz mit der von ihnen bevorzugten „Intelligent-Design-Theorie“ steht. Galileis Mut, das Tabu seiner Zeit rund um das geozentrische Weltbild zu ignorieren, aber auch Charles Darwins Erkenntnisse, die die Menschheit zwangen, den „Schöpfungsakt“ in einem neuen Licht zu sehen, waren wichtige Schritte hin zur Befreiung des wissenschaftlichen Denkens von theologischer Bevormundung und sollten trotz ihres „historischen Charakters“ weiterhin Ansporn sein, zukünftigen Tabubrüchen nicht nur mit Vorbehalten zu begegnen, sondern mit  Hoffnung entgegen zu sehen.


[1] „Tabu ist ein polynesisches Wort, dessen Übersetzung uns Schwierigkeiten bereitet, weil wir den damit bezeichneten Begriff nicht mehr besitzen. Den alten Römern war er noch geläufig, ihr > s a c e r < war dasselbe wie das Tabu der Polynesier. […]“Es heißt uns einerseits: heilig, geweiht, andererseits: unheimlich, gefährlich, verboten, unrein.“ ( vgl.: Sigmund Freud in „Totem und Tabu“, Fischer Taschenbuch, Februar 1980, Seite 26)

[2] James George Frazer, Der Goldene Zweig, Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker, Rowohlt, 5. Auflage, Reinbek bei Hamburg, 2004, S.28; die zugrundeliegende Originalausgabe erschien 1922 unter dem Titel „The Golden Bough“

 

„Das Böse ist immer und überall!“

„Das Böse ist immer und überall!“

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Der Kampf gegen den „bösen Blick“

Es ist noch nicht lange her, da sprach ein amerikanischer Präsident vom Kampf gegen die „Achse des Bösen“ und scheiterte kläglich. Einem Großteil der amerikanische Öffentlichkeit, dem dieser „speech“ nicht nur nicht fremd ist, sondern immer noch direkt in die gottgläubige Seele fährt, gefiel es. Ja, die Amerikaner sind eben doch anders, könnte man sagen. Ihre Kollektiv-Seele ist im Gegensatz zu der unsrigen noch offen für die Segnungen religiöser, also absoluter Wahrheiten, ergo auch für „das Böse“. Wie man bekanntlich auch von anderen Gesellschaften weiß, bietet das Vorhandensein eines hohen technischen Standards in einer Gesellschaft keinerlei Gewähr dafür, dass man nicht parallel dazu auch an den Weihnachtsmann und den Storch oder an ein intelligent design glauben könnte; oder diesen hohen technisch-zivilisatorischen Standard nicht auch dafür einzusetzen wüsste, mit möglichst geringem Aufwand eine möglichst große Anzahl von Feinden auszulöschen.

Es ist sogar möglich – wie die aktuelle Performance fundamentalistischer Muslime dem aufgeklärten Westen eindrucksvoll vor Augen führt – in einem technisch hochzivilisierten Staat zu leben und sich gleichzeitig kulturell auf einer weit weniger fortgeschrittenen Ebene zu bewegen, die man populär „mittelalterlich“ zu nennen geneigt wäre.[1]

Da das Böse“nicht nur von Präsidenten jenseits des Großen Teiches bemüht wird, sondern auch von Journalisten in Europa, noch dazu von solchen, denen man Seriösität zubilligen zu können glaubt, scheint es angebracht, die Sache mit „dem Bösen“ etwas ins Licht zu rücken.



„Das Böse lässt sich nicht wegsoziologisieren!

schrieb Marko Martin in Die Welt – online am 25. Oktober 2014.

Das mag stimmen, allein schon deswegen, weil sich auch Imaginationen, haben sie einmal vom Menschen Besitz ergriffen,[2] als sehr resistent erweisen; das Böse lässt sich aber auch nicht nach Belieben „herbeizaubern“, um damit ein-für-alle-mal den Unfrieden dieser Welt zu erklären, auch dann nicht, wenn man es noch so oft versucht.

„Nur wenn man das Böse anerkennt, kann man es auch bekämpfen!“  [3] lautet die zweite Hauptthese des Textes in „Die Welt“, was sehr an die Beschwörungsformel des Zauberlehrlings „Besen, Besen, sei’s gewesen!“ erinnert. Beide Thesen sollten im Nachfolgenden zu widerlegen sein.



„Das Böse“ – etwas real Existierendes?

 

Der Drudenfuß, d a s  Symbol für "das Böse"; Quelle Wikipedia
Der Drudenfuß, d a s Symbol für „das Böse“; Quelle Wikipedia

Einige Engel haben sich einstmals – angeblich grundlos – von Gott abgewandt. Sind sie böse oder sind sie „das Böse“?  

An die Existenz des Bösen zu glauben, bedeutete lange an die Existenz von Dämonen oder an böse Geister zu glauben. Lange Zeit glaubten die Menschen, dass es das Böse tatsächlich gäbe und dass es in unterschiedlichen Formen sein Unwesen treibe. Es wurde personifiziert: in Form der „Sündenböcke“ oder in Form des „Satans“, der „Trud“[4] u.v.a.m.

Es gab aber auch abstraktere Formen an das Böse zu glauben. So wird von Praktiken bei den Ureinwohnern Chinas folgendes berichtet:

„Bei vielen Ureinwohnern Chinas wird im dritten Monat jeden Jahres ein großes Fest gefeiert. Es wird als großes Freudenfest über eine angeblich völlige Vernichtung alles Bösen, das sich innerhalb der letzten zwölf Monate angesammelt hat, begangen. Die Vernichtung soll auf folgende Weise vor sich gehen: Ein großer irdener Krug, mit Schießpulver, Steinen und Eisenstückchen angefüllt, wird in der Erde vergraben. Hierauf wird eine Zündschnur gelegt, die mit dem Krug in Verbindung steht. Ein Streichholz wird daran gehalten, und Krug und Inhalt in die Luft gesprengt. Die Steine und Eisenstückchen stellen die Übel und Katastrophen der Vergangenheit dar, und ihre Zerstreuung durch die Explosion soll das Unheil selbst beseitigen. Begleiterscheinungen des Festes sind große Schwelgereien und Trunkenheit.“ [5]

Das Böse bedroht uns! Von Anbeginn der Welt – angeblich, so glaubt man.

Man glaubt allerdings auch, dass die Menschen seit Anbeginn glaubten, was aber eben auch nicht mehr als ein Glaube ist.

Erst die „Moderne“ stemmt sich mit aller Macht gegen den Glauben. Der Glaube sei unmodern, besser: vor-modern behauptet sie. Heute käme es einzig auf das “Wissen“ an. Aber ganz ohne Glauben geht es denn doch nicht, nicht einmal in der Moderne; selbst in die geheiligten Hallen der (postmodernen) Wissenschaft habe der Glaube beschränkt Zutritt erhalten.

Aber die Sache mit dem Glauben ist heutzutage nicht mehr so einfach, wie man sich das oft denkt.

„Wir haben es heute [aber] mit einer Art „suspendiertem Glauben“ zu tun , einem Glauben, der sich nur dann entfalten kann, wenn er (in der Öffentlichkeit) nicht vollständig eingestanden wird, sondern ein obszönes Geheimnis bleibt.“ [6]

Platon 428 - 348 v.Chr. Quelle Wikipedia
Platon
428 – 348 v.Chr.
Quelle Wikipedia

Glaubt man Platon, begann die Welt mit einem „Goldenen Zeitalter“, in dem; weil es golden war, das Böse keine große Rolle gespielt haben kann. Wählt man einen solchen idealisierten Ausgangspunkt, hat das den nicht zu übersehenden Nachteil, dass es von nun an nur mehr bergab gehen konnte.

August Comte, einer der Gründerväter der Soziologie, entwickelte im 19. Jahrhundert eine der platonischen diametral entgegengesetzte Theorie, nach der die Menschheit notwendig und unabwendbar drei Stadien der Entwicklung durchlaufen müsse, um nach dem Durchgang durch das religiöse und das daran anschließende metaphysische das höchstentwickelte, das positive zu erreichen, in dem aller Glaube verworfen wird; wobei positiv soviel wie wissenschaftlich bedeutet.

Ähnliches findet sich bei Karl Marx, dem hervorragenden Sozialdiagnostiker, der der Nachwelt aber eher  als Gründervater einer später staatstragenden Ideologie bekannt ist, der Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Marx dachte, dass die Menschheitsgeschichte in Form eines geschlossenen Zyklus ablaufe; nach einem Kindheitsstadium der Menschheit im Urkommunismus, über die Sklavenhaltergesellschaften und den Feudalismus hin zum Kapitalismus müsse es gehen und erst nach der unausweichlich eintretenden Verelendung der Massen im Kapitalismus sei es der Menschheit vergönnt, die endgültige Befreiung von allem Übel zu erleben und wieder in der „klassenlosen kommunistischen Gesellschaft“ zu landen, in der „absolute Gleichheit“ und damit „absolute Gerechtigkeit und Freiheit“ für jedermann herrsche.

Beiden, Comte und Marx ist gemeinsam, dass sie an das glaubten, was als „Determinierung“ sozialer Prozesse bezeichnet wird. Sowohl Comte als auch Marx waren darüber hinaus der Ansicht, dass sich die menschliche Gesellschaft als natürliche Erscheinung ebenso verhalte, wie sie es an anderen Naturphänomenen zu beobachten können glaubten.

Heute wissen wir, dass sich soziale Verhältnisse und Beziehungen weder mit naturgesetzlicher Gewissheit beschreiben lassen, noch als „Dinge“ betrachtet werden dürfen, wie das Emil Durkheim [7]einst vorschlug. Diese Ansicht lässt sich an einer Vielzahl gescheiterter „Sozialprognosen“ belegen. Die Entwicklung schlägt nicht selten ganz andere Wege ein, als ursprünglich angenommen.

Das von Francis Fukuyama proklamierte „Ende der Geschichte“ ist offensichtlich doch noch nicht erreicht. Noch ist Platz für Überraschungen und weiteren Wandel.

Seit Anbeginn der Menschheit hat es eine Vielzahl von „Weltverbesserungs-Aktionen“ gegeben. Trotz aller Rationalisierung und Verwissenschaftlichung des Lebens, scheint „das Böse“ die Welt aber immer noch in Atem zu halten. Dies sollte nicht zur Verwunderung Anlass sein, ist es – als Phänomen des menschlichen Geistes – bestens  geeignet, ihm die „Furchtbarkeiten“ der Welt anzulasten und gleichzeitig die Hilflosigkeit des Menschen ihm gegenüber zu dokumentieren. Wenn man sich dem Bösen chancenlos ausgeliefert sieht, ist es dann nicht das Beste, sich mit der Unvermeidlichkeit des Bösen abzufinden, sich dem Schicksal zu ergeben?

Was man fürchtet, zieht aber bekanntlich auch an! Gespeist aus dem Vergnügen, das das Gruseln verschafft, finden sich immer wieder Menschen, die ihre gesicherten Plätze in der Gesellschaft verlassen, um sich dem „Bösen“ anzuschließen oder es zu bekämpfen. Und das geschieht nicht nur in den Märchen der Gebrüder Grimm. Der verstärkte Zulauf westlicher Jugendlicher zum Djihad der IS mag als Beleg gelten. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft, die Sehnsucht sich selbst als etwas Besonderes erleben zu dürfen, zu den „Auserwählten“ zu gehören, könnte bei der Entscheidung die existenzielle Sicherheit des Westens hinter sich zu lassen, um sie gegen die Verlockungen des Djihad einzutauschen, eine wichtige Rolle spielen. Dass die Kämpfer für den IS sich keineswegs als Kämpfer für das Böse definieren, mag nicht überraschen.

Für den modernen Menschen steht fest, „das Böse“ per se ( den „Dingcharakter“ sozialer Erscheinungen) gibt es nicht, auch wenn Menschen von Fall zu Fall böse s i n d.

Selbst eine von einem Menschen gesetzte Handlung als „absolut böse“ zu beurteilen, stößt auf Schwierigkeiten, denn es hieße, Handlungen einen absolut gültigen Wertekanon zugrunde zu legen, dem alle Menschen gleichermaßen verpflichtet sind. Ein solcher allgemein anerkannter Wertekanon existiert derzeit nicht. Die Anforderungen einen solchen zu erstellen, erscheinen zu komplex. Dennoch hat sich bereits im Jahre 1993 ein Parlament der Weltreligionen in Chikago auf eine „grundkonsens-orientierte Erklärung zum Weltethos“ geeinigt. Diese Erklärung war zuvor in Tübingen entworfen worden. Seit 1995 widmet sich die „Stiftung Weltethos“ der dafür notwendigen Grundlagenforschung.[8]

Bleibt vielleicht doch mehr, als nur beim Bösen und /oder in einem undifferenzierten Wertrelativismus Zuflucht zu suchen, der alles und jedes entschuldigt, verzeiht, toleriert oder vielleicht sogar alles als gleich wertvoll betrachtet?

Die kulturhistorische, anthropologische und die soziologische Forschung der letzten hundert Jahre hat in ausgedehnten Felduntersuchungen den eindeutigen Beweis erbracht, dass sich unterschiedliche Kulturen nicht nur in ihren Lebensweisen unterscheiden, sondern dass sie sich in ihrem Handelns auch auf unterschiedliche Ethiken – besser unterschiedliche Moralen – berufen, die in weiterer Folge unterschiedliche Verhaltensregeln für das jeweilig als sittlich betrachtete Handeln hervorbringen.

Derzeit besteht – vor allem zwischen den sogenannten westlichen und den islamischen geprägten Kulturen – das Problem, dass Handlungen, die von den Mitgliedern der einen Kultur als ethisch „gut“ bewertet werden, von denen einer anderen oft heftigst abgelehnt werden. Manchmal sind die moralischen Grundsätze sogar innerhalb derselben Kultur umstritten und werden von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen in Zweifel gezogen oder überhaupt unterlaufen. Es hieße einem Irrtum unterliegen, ginge man in Bezug auf die westlichen Gesellschaften davon aus, dass wenigstens ihnen eine homogene Vorstellung von Moral zugrunde läge. Die herrschende Moral ist und war immer ein umkämpftes Feld, in dem sich zwischendurch einzelne Bereiche aufweichen, manchmal sogar verflüchtigen und dann wieder stärker ins Blickfeld gerückt werden.

Wie uneinheitlich, wie vielfältig die moralische Bewertung sogar ein und derselben Handlung sein kann, zeigt, dass zu stehlen, was in den meisten Kulturen als böse gilt,  manchmal auch erlaubt ist; beispielsweise dann, wenn der Bestohlene einem fremden Volk, einer anderen abgelehnten sozialen Einheit, einer anderen verfeindeten Gruppe angehört; manchmal ist es sogar ausdrücklich erwünscht.  Den Feind zu bestehlen, zeugt darüber hinaus von besonderer Listigkeit und Mut.

Ähnliches findet man in Bezug auf die Wahrheitsliebe: Der Islam erlaubt seinen Gläubigen Ungläubige zu belügen. Ähnliche moralische Standards findet man übrigens auch bei Zigeuner[9]-Völkern, die erlauben „Gadsche“ (Nicht-Zigeuner) zu belügen oder zu bestehlen, das Gleiche galt – wenn sich Josef Winkler, derzeit wohl einer der Paradeschriftsteller Österreichs, erfolgreich auf Karl May beziehen darf, darf ich’s vielleicht auch – bei den Komatschen und den Sioux; nur die Apatschen waren, vom Autor dem westlichen Moralkodex angepasst, „brav“.

Die Lüge und Verstellung im privaten Verkehr verpönt, wird vom erfolgreichsten „Spindoktor und Coach“ des Mittelalters geradezu als der Königsweg Weg zum Erfolg gepriesen: „Es ist das Zeichen großer Weisheit, sich zur rechten Zeit töricht zu stellen.“ [10] oder auch „In der Kriegführung ist Betrug rühmlich.“ [11]

Dass nicht einmal die Tötung eines Menschen in jedem Falle böse  ist, wird niemand mehr überraschen. Die Tötung eines Angehörigen der eigenen Gruppe ist heimtückischer Mord, die des Feindes eine Heldentat, für die die verschiedensten Belohnungen versprochen werden, einmal ist es das Hab und Gut des Getöteten, einmal ist es ein „Eisernes Kreuz“. 

Degenhardt

Der deutsche Liedermacher und Poet Franz Joseph Degenhardt besang in der Blütezeit der 68er-Generation diese Wertungsdiskrepanz wortreich in seiner Ballade „In den guten alten Zeiten“. Dort heißt es: 

„Man zerschlug ein Kind, wenn es die Füße vom Klavier zerbiss,

aber man lachte, wenn’s dem Nachbarkind ein Ohr vom Kopfe riss…. 

[…] doch war’s artig hat’s zum Beispiel einen Panzer gut gelenkt

dann bekam es zur Belohnung um den Hals ein Kreuz gehängt….“ [12]

Die Beurteilung von Handlungen oder Eigenschaften ist zuletzt auch abhängig davon, ob diese Handlungen von Gruppenangehörigen oder Außenseitern ausgeführt werden. Hier gilt: „Insider-Tugenden sind Outsider-Laster“. Der „Insider“, dem man gut gesinnt ist, wird mit positiv besetzten Vokabeln beschrieben, beispielsweise „sparsam, eifrig, engagiert und seinen Prinzipen treu“; wäre er Outsider, hieße es: er ist „geizig, ein Streber und ein unnachgiebiger Sturschädel“.



„Das Böse“ und der Ruf nach dem Gewissen

Nicht selten fordern Menschen, vor allem diejenigen, die meinen, berechtigte Zweifel an einer gerechten, einer der Menschlichkeit verpflichteten Rechtsordnung haben zu dürfen, man müsse sich eher am eigenen Gewissen, als am gesetzten Recht orientieren, wenn man im Laufe eines langen Lebens und wechselnder Verhältnisse ein anständiger Mensch zu bleiben beabsichtige. Das mag für einzelne Fälle durchaus seine Berechtigung zu haben, als generelle Regel wird man es wohl nicht gelten lassen dürfen.

Gerne beruft man sich dabei auf diejenigen, die gegen alle Widerstände, gegen alle Rechtsvorschriften handelten, um Menschen zu helfen, denen zu helfen vielleicht verboten war. Der Rekurs auf das eigene Gewissen, ist jedoch nicht immer ein verlässlicher Ratgeber.

Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass unser Gewissen uns mit Sicherheit davor bewahren könnte, Unrecht zu tun.  Selbst die größten Verbrecher begingen ihre Schreckenstaten nicht selten mit reinem Gewissen. [13]

Wir und damit auch unser Gewissen sind unbestreitbar auch das Ergebnis unserer kulturellen Umwelt. Die Ideen, Gedanken und Gefühle, die uns bewegen und anleiten, haben ihren Ursprung nicht allein in unseren genetischen Dispositionen, sind kein Ergebnis göttlicher Anleitung, sondern gründen sich auch auf das Soziale. Erst durch „die Anderen“ erkennen wir uns selbst. [14]

Der Mensch ist also immer ein Produkt mehrerer Faktoren: seiner genetischen Dispositionen, seiner Erziehung und damit auch seiner Kultur, in die er hineingeboren wurde; sie ist es, die ihm ein Vorverständnis dessen liefert, was gut und was böse ist. Dieses Verständnis, zu dem notwendig auch die Vorurteile (die positiven als auch die negativen) gehören – wird durch die sozialen Kontakte fest in ihm verankert. Dies geschieht teilweise durch eigens dafür geschaffene Institutionen: Schulen, Universitäten, Militär, teilweise im Rahmen alltäglicher Sozialerfahrungen. Dieses Feld lehrt uns gut zu handeln. Wir lernen gleichzeitig aber auch selbständig darüber nachzudenken und das Gelernte an der Wirklichkeit zu erproben. Spätestens dort zeigt sich, dass das gute Handeln nicht immer auch zu guten Ergebnissen führt.



„Gesinnungsethik vs. Verantwortungsethik“

Max Weber, 1917 Quelle Wikipedia
Max Weber, 1917
Quelle Wikipedia

Wir wissen, nicht zuletzt seit der trefflichen Ausdifferenzierung Max Webers, zwischen „Verantwortungsethik“ und  „Gesinnungsethik“ [15] , dass selbst Handlungen, die sich auf eine gesinnungsethisch akzeptable Grundlage – einen Moralkodex etwa – berufen können, in ihren Auswirkungen nicht in jedem Fall gut sind.

Den Angehörigen der Zeugen Jehovas ist es – durch ihren Moralkodex – verboten, Blutinfusionen zu erhalten; der Gesinnungsethiker würden selbst dann auf Einhaltung dieser Norm bestehen, wenn er dafür den Tod seines erkrankten Kindes in Kauf nehmen müsste, das durch eine Blutinfusion gerettet werden könnte.

Der Verantwortungsethiker hingegen würde in so einem Fall diese ethische Norm dispensieren, um so das Leben des eigenen Kindes zu retten.

Auch wenn man sich dem Standpunkt der Verantwortungsethik  nicht anschließen kann, weil er nach wenig Prinzipientreue aussieht, weil man vermuten könnte, dass ein solcher Standpunkt nach Belieben geändert, dass auf diese Weise alles und jedes gutgeheißen, alles nach Belieben entschuldigt werden könnte oder gar die nach diesen Grundsätzen handelnden Menschen aus ihrer Verantwortung entlassen würden, sollte man bedenken, dass es bei der Verantwortungsethik eben gerade nicht um eine relativierende, sondern um eine relationierende (die Umstände bedenkende) Form von ethischer Normtreue geht.

Dies alles spricht n i c h t dagegen, für sich festzulegen, welche Handlungen man als „moralisch-gut“, welche man als böse bezeichnet, es spricht auch nicht dagegen, den einzelnen Menschen für seine Taten in Verantwortung zu sehen. Es spricht aber sehr wohl gegen das Böse, weil es eben einen Unterschied macht, ob man von „bösen Handlungen“, von bösen Menschen, einer bösen Politik, also von etwas spricht, das mit einer „ bösen Eigenschaft“ ausgestattet ist, oder ob man das Böse als selbständiges Faktum (als soziologische, psychologische Entität) anerkennt, das irgendwie und irgendwann in die Welt gekommen ist.

Der scheinbar unausrottbare Glaube an die Existenz des Bösen ist nach wie vor auch Symptom unserer angeblich modernen Gesellschaft. Nach Phasen der Entzauberung, eingeleitet durch die Aufklärung, die die morgenländische Wissenschaft zur Blüte bringen sollte, ist die Gesellschaft in ihren Populärbereichen offensichtlich wieder verstärkt in eine Phase der Wiederverzauberung eingetreten und rückt damit Inhalte und Funktionen sowohl traditioneller Religionen als auch modernistischer Pseudo-Religionen in den Vordergrund. Vielleicht sollten wir auch bald schon ihre weltlichen Sublimate in Form von Ideologien oder politischen Bewegungen wiedererstarken sehen.

Diese Wiederverzauberung der Welt trat immer schon und tritt auch heute in unterschiedlicher Verkleidung vor den Vorhang der Weltbühne. Einmal zeigt sie sich im Kleid von Ideologien: dem Nationalismus, Marxismus, Nationalsozialismus, Maoismus und vielen andern –Ismen mehr, die erschöpfend aufzuzählen hier nicht von Nöten ist, dann wieder zeigt sie sich in Form verlockender Früchte unbestimmter Esoterik, der Astrologie, der Wahrsagerei, des Kartenlegens, des Schamanismus oder „Tischerlrückens“.

Als einen der dafür maßgeblichen Gründe könnte man die Tatsache sehen, dass sich der Mensch trotz der Entzauberung der Natur in der modernen Welt einem hohen Maß an Unsicherheit ausgeliefert fühlt. Trotz der hilfreichen Hand der Wissenschaft orientierungslos bleibend, sucht er sein Heil in Phantasieerklärungen, nimmt Zuflucht bei seinen alten Göttern oder schart neue um sich, weil er sich einem Leben mit permanent offenen, nicht beantworteten Fragen, nicht gewachsen fühlt.

Diese schmerzhaft-offenen Fragen beziehen sich dann meist nicht gar nicht so sehr auf die sogenannten letzten Fragen der Menschheit, die, um Immanuel Kant zu bemühen, darum kreisen, was der Mensch wissen kann, tun soll, was er hoffen darf, kurz was der Mensch ist ; darauf also, was das Wesen des Menschen ausmacht, welche Fähigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen er hat.

Dass die europäischen traditionellen Religionen davon nicht zu profitieren in der Lage sind, ist in erster Linie ihrem Unvermögen zuschreiben, auf die Fragen der Zeit eine adäquate Antwort geben zu können.

Diese Unsicherheit der modernen pluralistischen Gesellschaft könnte einer der auslösenden Faktoren sein, die die Menschen hindrängt zum Klaren, Einfachen, zu einer „Ordnung“, die eine möglichst „ewige“ darstellen soll.

Wenn in diesem Zusammenhang göttliches Recht ins Spiel gebracht wird, ist der Schritt zum Verhängnis des Autoritativen nicht mehr weit. Insofern gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den angeblich rational-organisierten, dem Pluralismus verpflichteten Gesellschaften westlichen Zuschnitts und den den mittelalterlich- theologischen Konzepten verpflichteten muslimischen Gesellschaften, deren Bestreben es ist, dem göttlichen Recht in Form der Scharia überall auf der Welt zum Durchbruch zu verhelfen.

Diesem göttlichen Recht, verkündet durch heilige Schriften, immunisiert gegen jegliche Kritik, das dem „vormodernen Menschen“ als das Non-plus-ultra gilt, kann der moderne, rationale Mensch nichts als seine – wie dogmatisch veranlagte Kritiker meinen – wenig verlässliche Rationalität entgegenhalten; eine Rationalität, die von sich selbst sagen muss, nur über interimistische Wahrheiten Auskunft geben zu können. Sie gibt, der Wahrheit verpflichtet zu, nur über Erkenntnisse zu verfügen, deren angeblicher Mangel ihr größter Schatz ist: ihr Vorläufigkeitscharakter.

Im täglichen Kampf gegen einen über Jahrhunderte tradierten Glauben, der gestählt durch unzählige Einschleifverfahren ins Geflecht der menschlichen Ganglien, diese vorläufigen Wahrheiten beiseite fegt, stellt diese Erkenntnis nur ein stumpfes Schert da, das man verlachen zu dürfen glaubt.

Der Dogmatiker des Glaubens schleudert alles Rationale mühelos zur Seite, Jahrhunderte der Entwicklung prallen wirkungslos an ihm ab, denn seine selbstimmunisierenden, meist tautologischen Sätze gelten seit jeher als unkritisierbar. Mehr noch: die vom göttlichen Duktus, ausgestrahlte unangreifbare Sicherheit bietet nicht nur dem Dogmatiker, sondern auch dem an seiner Orientierungslosigkeit leidenden Individuum seit Jahrhunderten Sicherheit, Schutz, Geborgenheit und die innere Gewissheit einer Perspektive, die – auch wenn sie ins Unendliche verlagert ist – nicht selten unter dem Postulat der Selbstaufopferung in Erscheinung tritt.

Der Gläubige hat nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen. Das Heilsversprechen, das darin besteht, „Klarheit der Verhältnisse“ zu schaffen, tritt immer sofort in Kraft: das Gute kämpft gegen das Böse. Mehr zu wissen, ist nicht nur nicht erforderlich, es ist sündhaft!

Dass in diesen Tagen gerade die aufgeklärten westlichen Gesellschaften in vermehrtem Maße zur Kenntnis zu nehmen gezwungen sind, dass ihrem „kulturellen Fortschritt“ [16], ein „kultural lag“ [17] anderer Gesellschaften machtvoll entgegentritt, ist in einer Welt, deren Grenzen einander unaufhaltsam näher rücken, unvermeidlich. Zudem ist eben auch in den westlichen Gesellschaften – wie oben beschrieben – ein Trend zur Wiederverzauberung spürbar, sodass man nicht nur einen inter-kulturellen Konflikt sondern auch einen intra-kulturellen Konflikt befürchten muss, vielleicht sogar einen, in dem sich die Anhänger vormoderner Weltsicht aller Kulturen in religiöser Ökumene gegen das Rationale verbünden.

Setzten sich die „Löwen“ durch, könnte es durchaus noch zu einer kultur-kriegerischen Auseinandersetzung kommen, wie es Samuel P. Huntington in seinem „Clash of Civilization“ befürchtet; so bleibt auf die „Füchse“ und ein die kulturellen Differenzen ausgleichendes Arrangement zu hoffen.

In einer Zeit, in der die Medien von Szenen des Kriegführens beherrscht werden, an denen kein Tag vergeht, an dem nicht von „teuflischen Untaten“ diktatorischer Regime die Rede ist; in einer Zeit, die uns überschwemmt mit Meldungen von Steinigungen, Enthauptungen, Selbstmordattentaten, Flugzeugentführungen, Vergewaltigungen und anderen Gräueltaten, ist man sehr schnell geneigt, alles das dem Bösen zuzuschreiben und glaubt nicht nur auf diese Weise bereits alles erklärt zu haben, sondern auch „den Feind“ wirkungsvoll benannt zu haben, den es zu bekämpfen gilt.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade in den aktuell sich zuspitzenden religiös unterfütterten politischen Auseinandersetzungen im „Nahen-Osten“ auch in der sogenannten westlichen Welt auf diese „überholten“ religiösen Kategorien zurückgegriffen wird.

Den wertenden Terminus „überholte Kategorien“ zu verwenden, ist deswegen angebracht, weil maßgebliche Denker des 19. und 20.Jahrhunderts, die berechtigter Weise als Klassiker der Religionssoziologie gelten wie Émile Durkheim, Max Weber, Ernst Troeltsch, Peter L. Berger Thomas Luckmann, den Säkularisierungsprozess, also die Trennung von Kirche und Staat [18]als ein konstitutives Kennzeichen der Moderne sehen, andererseits deswegen, weil die Verwendung des Begriffs :“das Böse“ einen Rückfall in vormoderne, religiöse und damit immunisierte Kategorien des Denkens darstellt. Wie schwierig es auch für „uns“ ist, diese Trennung konsequent zu vollziehen, lässt sich an unzähligen Verschränkungen zwischen Politik / Staat und Religion erkennen, die sich auch in unserer angeblich „aufgeklärten“ Gesellschaft, immer noch nachweisen lassen. (Abgesehen davon, dass sich in den Gerichtssälen immer noch Kreuze finden, auf die Bibel vereidigt wird, fühlen sich Politiker immer noch berufen, ihr „politisches Credo“ in Kirchen vorzutragen, ohne dass jemand daran Anstoß nähme. Wolfgang Schüssel hielt- um nur ein Beispiel zu nennen – im Jahr 2003 im Stephansdom einen Vortrag zum Thema: Wie versucht man, als Christ Politiker zu sein oder als Politiker Christ zu sein. (Siehe Standard vom 8./9. Nov. 2014)

Von dem Bösen zu sprechen, stellt also nicht nur eine rückschrittliche, sondern auch eine dem rationalen Charakter moderner Wissenschaft widersprechende Argumentationsfigur dar, der – und das ist das Wichtigste – jegliche Problemlösungskapazität fehlt.



Durch den Rekurs auf das Böse wird nichts von dem, was erklärt werden soll, tatsächlich erklärt.

Das Böse in den Zeugenstand zu rufen, stärkt nur diejenigen irrationalen Geisteshaltungen, die sich gerne darauf berufen, dass das Böse als Gegenspieler des Guten seit Anbeginn in der Welt und zumindest seit den Tagen des Sündenfalls in Form der Erbsünde – auch Teil des Menschen sei. Eine etwas fortschrittlichere, modernere Variation dieses Satzes läge in der anthropologisch, biologisch gestützten Behauptung, dass der Mensch von Natur aus immer schon böse gewesen sei. Beides ist gedanklich inkorrekt. Korrekt wäre, davon zu sprechen, dass der Mensch immer schon, wenn auch nicht beständig böse handelte.

Tritt man dem Problem auf der Handlungsebene gegenüber, bedeutet das aber auch auf ganz andere Strategien zurückgreifen zu müssen, um im Kampf gegen das Böse zum Erfolg zu kommen.

Die Apologeten eines modernen Irrationalismus verkünden gerne: „man könne das Böse nur bekämpfen, wenn man es anerkenne! Diese Ansicht streift das Problem zwar peripher muss aber gerade deswegen notwendig scheitern. Das Böse lässt sich allein deswegen nicht besiegen, weil es „an sich“ eben nicht existiert. Das Böse ist ein religiöser Begriff, dem findige Theologen einen kongenialen Partner zur Seite stellten: die Erbsünde.



Die Frage nach dem „Warum“

Immer dann, wenn Böses geschieht, fragen die Menschen fast reflexartig nach dem Warum! Allein diese Frage sei schon verhängnisvoll, meint Marko Martin in seinem Artikel, weil schon die Alten Griechen davon ausgegangen seien, dass das Böse eine anthropologische Konstante sei. „Warum sollte der Mensch n i c h t böse sein?“ wäre die bessere Frage, meint er.

Die Frage nach dem Warum ist aber ebenso menschlich, wie es menschlich ist, böse zu handeln. Die Frage nach dem Warum war und ist es auch, die den Menschen zu seiner Entwicklung befähigte und immer noch befähigt. Ohne beständig nach den Gründen zu fragen, warum die Welt gerade auf diese Weise abläuft wie sie abläuft, säßen wir immer noch in unseren Bärenhöhlen und würden Steinmesser aus Obsidian schärfen.

Die Frage nach dem Warum beinhaltet zwei ganz unterschiedliche Aspekte: „Warum“ fragt in erster Linie nach der Motivation einer Tat, nicht nach deren Ursache. Denn die die Tat auslösende Ursache kann weit davor – weit vor dem Entstehen des Motivs oder weit danach – liegen. So kann eine Handlung durch die Vorstellung, die wir über ihren Nutzen oder ihren sittlichen Wert haben, vollständig motiviert sein, ohne deswegen auch schon zu geschehen. Um sie auszuführen bedarf es noch eines Entschlusses in dem sich schließlich die Freiheit der handelnden Person manifestiert.

Der zweite Aspekt des Warum lässt uns nach den Ursachen fragen. Dies wird oft fälschlich, aber nicht immer ganz ungerechtfertigt, mit einer Suche nach Entschuldigungsgründen verwechselt. Vor allem die Anhänger jenes Menschenbildes, das alle Eigenschaften und Verhaltensweisen des  Menschen, allein seiner Erziehung, seinen sozialen Beziehungen, seiner Einbettung in das soziale Umfeld zuzuschreiben geneigt sind, verwenden diese missverstandene Ausdeutung des Begriffs Erklärung nicht selten tatsächlich im Sinne von Entschuldigung.  Erklären bedeutet aber, die dem Verhalten zugrunde liegenden höchsten und letzten Werturteile erkennen. Dieses Erkennen  wiederum ist zu unterscheiden vom Beurteilen.

Es geht vielmehr darum zu erforschen, was die Maßstäbe sind an denen die Wirklichkeit gemessen und aus denen das Werturteil abgeleitet wird. [19]

Es geht dabei nicht darum, ein Verhalten zu entschuldigen!   Die Frage nach dem Warum ist die Frage nach einer Erklärung des Verhaltens. Damit soll aufzuzeigen versucht werden, welche Idee hinter einem bestimmten Verhalten zu finden ist.

Denn es ist selbstverständlich eine der wesentlichsten Aufgaben einer jeden Wissenschaft vom menschlichen Kulturleben, diese „Ideen“, für welche teils wirklich, teils vermeintlich gekämpft worden ist und gekämpft wird dem geistigen Verständnis zu erschließen. [20]

So kommt man zu einer weiteren unbedingt notwendigen gedanklichen Differenzierung, nämlich der der Unterscheidung von philosophischer Ethik und theologischer Ethik, die sich – auch wenn sie einiges an Gemeinsamkeiten aufweisen – in einer Hinsicht grundlegend unterscheiden. Die philosophische Ethik, die sich mit der Natur moralischer Verbindlichkeit beschäftigt, ohne irgendeine bestimmte Moral zu empfehlen, gründet sich auf Einsicht oder Beobachtung, die theologische Ethik hingegen gründet sich auf göttliche Offenbarung. Sie ist Moral. Wenn nun die göttliche Offenbarung verlangt, allen Ungläubigen, wo immer man sie trifft, den Kopf abzuschlagen, so wäre dies, da sich der Täter als Werkzeug im Vollzug göttlichen Willens verstehen dürfte, sogar als moralisches Verhalten“zu beurteilen.



Fazit:

Das Böse ist

für den Individualisten das Kollektive

für den Kapitalisten der Sozialismus

für den Sozialisten der Kapitalismus

für den Demokraten die Diktatur

für den Religiösen der Atheismus

für den Anarchisten der Staat

für den Liberalen die Vorschrift

für den Kosmopoliten der Nationalismus

für den Nationalsozialisten der Judaismus

und

für den Drachenflieger der Seitenwind

Gesetzt den Fall, man ließe sich von der Überzeugung der Existenz „des Bösen“ doch nicht abringen, dann muss man sich zumindest die Frage gefallen lassen: Warum lässt ein allmächtiger, seine Geschöpfe „liebender“ Gott das Böse [21] zu?

Und: Wie konnte er zulassen, dass Engel von ihm abfielen und dass Satan zu einem so mächtigen Gegenspieler avancierte konnte? Er hätte doch auch alles ganz anders planen und ausführen können?

Schließlich müsste man sich fragen, ob Gott immer schon sadistische Züge aufwies bzw. aus welchem Grund Gott zum Sadisten wurde? Oder anders: Aus welchem Grund beliebte Gott den  Marquis de Sade in besonders hohem Maße mit göttlichen Eigenschaften auszustatten?