Neutralität am Prüfstand

Der ehemalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) rät Österreich dazu, seine Neutralitätspolitik grundlegend zu überdenken. Im Falle eines Rückzugs der USA aus Europa sei für Neutralität auf dem Kontinent nämlich nur „wenig Platz“, so Schüssel in einem Beitrag für das Magazin „Der Pragmaticus“. (Die Presse online, 11.3.2024)

„Überdenken“ ist ein typischer, euphemistisch-verschleiernder Ausdruck dafür, dass eigentlich „aufgeben“ gemeint wird. Schüssel will die Neutralität nicht überdenken, er will, dass man sie aufgibt. Will es aber nicht offen sagen. Man kann nur hoffen, dass diese Ansicht nie zur Mehrheitsmeinung der Österreicher wird.

Es ist eine Tatsache, dass Wolfgang Schüssel so wie viele andere Politiker auch, ich denke an Herrn Vranitzky, aber natürlich auch an Herrn Mock, an alle, die anlässlich der EU-Beitrittsverhandlungen dabei waren, immer wieder betonten, dass ein EU-Beitritt an der Neutralität Österreichs nichts ändern werde. Das war offensichtlich gelogen, wie wir heute wissen. Heute wird uns Staatsbürgern in mehr oder weniger verschlüsselten Worten mitgeteilt, dass es ohnehin schon eine Beistandspflicht im Rahmen der EU gäbe auch ohne, dass wir der NATO offiziell beigetreten wären. Dass Österreich seit langem als Korridor für westliche Waffensysteme genutzt wird, mit und ohne Ausnahmegenehmigungen, ist auch seit Langem öffentlich bekannt. Kurz, es wird alles unternommen, die verfassungsmäßig verbürgte Neutralität so lange auszuhöhlen, bis nichts außer dem Namen übriggeblieben ist. Dass es gerade die FPÖ ist, die sich jetzt für Österreichs Neutralität stark macht, ist der Treppenwitz der Geschichte, weil ich mich noch an Zeiten erinnere, wo gerade sie es war, die offen für einen Nato-Beitritt eintrat. Sie hat ihre Meinung geändert, was mich freut, die anderen Parteien, zumindest große Teile der ÖVP haben ihre Meinung offensichtlich auch geändert, was mich beunruhigt. Die Neos sind offen für einen NATO-Beitritt, was sie für mich unwählbar macht, bei der SPÖ und den Grünen weiß man/ich es nicht so genau.

Der Krieg in der Ukraine hat diese Frage auch in Österreich wieder virulent werden lassen. Das Hauptargument liegt wieder einmal darin, dass Österreich alleine nicht in der Lage wäre, sich gegen einen eventuellen Angriff Russlands erfolgreich zu wehren. Dieses Argument lässt sich natürlich nicht entkräften. Nein, wir wären hoffnungslos unterlegen. Aber gerade das wäre unser Glück. Diese Einsicht allein, würde unser Land vor der vollständigen Vernichtung bewahren. Würden wir in einen Krieg gegen Russland an der Seite der Nato verwickelt, würde das die vollständige Vernichtung Mitteleuropas und damit Österreichs bedeuten. Dass auch der Erste Weltkrieg ein Krieg der „Bündnisse“ war, ist erwiesen. Bündnisse entwickeln bekanntlich oft verhängnisvolle, nicht vorhersehbare, toxische „Nebenwirkungen“, die von niemand gewollt werden, aber auch – so sie einmal zu wirken beginnen – von niemandem mehr verhindert werden können .

Man sieht aber am Beispiel der Ukraine wie verhängnisvoll sich die von der Ukraine verfolgte Politik der Annäherung an die NATO ausgewirkt hat. Diese unselige Bündnispolitik – angeblich im Namen des Friedens – war es, die, weil mit den Machtinteressen Russlands unvereinbar, die Ukraine und auch Teile Europas wieder in diesen unseligen Krieg verwickelt hat. Hätte man die damaligen Vorschläge Russlands (kein NATO-Beitritt, Annahme eine neutralen Status, Abtretung der Krim) angenommen, wäre vielleicht alles ausgeblieben. Nun sieht so aus, als würde man noch Jahre so weitermachen, bis alles in Schutt und Asche liegt und wirklich in jeder ukrainischen Familie Tote zu beklagen sind. Verhandlungen mit dem russischen Feind gesetzlich zu verbieten, wie es Selensky getan hat, schließt eine Beendigung des Krieges aus. Wohin soll/wird das führen?

Man will es nicht wahrhaben, aber in der Politik geht es immer um Interessen. Wenn diese auf dem Verhandlungstisch nicht ausgeglichen werden können, gibt es Krieg. Und das unabhängig davon, wie die Führer der mächtigen Staaten gerade heißen. Die Staatsführer sind meist auch nicht viel mehr als nur die Personifikationen von Interessen. Russland hätte sich – so sagte man wenigstens – mit einer neutralen Ukraine zufrieden gegeben, welcher Teufel hat die Verantwortlichen geritten, es nicht wenigstens zu versuchen? Stattdessen beschloss man, nicht darauf einzugehen und alles das in Kauf zu nehmen, was sich anschließend entwickelt hat. Die furchtbaren Folgen tragen die ukrainischen Bürger und natürlich auch die russischen, die vom Regime Putin zum Kriegsdienst verpflichtet wurden und auf dem Schlachtfeld ihr Leben lassen müssen. Vielleicht wäre die Neutralität ihre Rettung gewesen?

Zurück zu Österreich: Die Neutralität stellt keinen direkten und verlässlichen Schutz vor Angriffen für Österreich dar. Besonders auch deswegen, weil sie von den Regierungen der Nachkriegszeit beständig ausgehöhlt wurde; sie ist aber mehr oder weniger die einzige Möglichkeit im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Staaten die eigene Unabhängigkeit und vor allem die Entscheidungskompetenz zu bewahren. Sobald man in ein „Bündnis“ eintritt, sind damit nicht nur Rechte, sondern natürlich auch Pflichten verbunden. In der NATO herrscht die sogenannte „Beistandspflicht“, für den Fall, dass ein Nato-Staat von einem anderen (Nicht-Nato-) Staat angegriffen wird. Ob diese Beistandspflicht auch schlagend wird, wenn der Erst-Angriff von einem Nato-Staat ausgeht, bleibt offen. Ebenso bleibt offen, wie es sich verhält, wenn – so wie es jetzt geschieht – NATOstaaten durch Waffenlieferungen, Beistellung von unterstützendem Personal und Infrastruktur einen anderen Staat (jetzt die UKRAINE) unterstützt und so zumindest indirekt Kriegspartei wird. (Wer einen Krieg wirklich begonnen hat, bleibt meist ohnehin ungewiss.) Nur als bündnisfreier und neutraler Staat hat man die Entscheidungsgewalt über Krieg und Frieden in den eigenen Händen. Ist Österreich ein Bündnispartner in der NATO entscheiden andere über sein Schicksal. Dass kleine neutrale Staaten sogar einen Weltkrieg unbeschadet überstehen können, hat die Schweiz im Zweiten Weltkrieg eindrucksvoll bewiesen.

Und wenn es wirklich jemals zu einem Angriff Russlands auf Österreich kommen sollte, was mehr als unwahrscheinlich ist, würde ich mich, um eine vollständige Zerstörung Österreichs zu verhindern, lieber eine Zeit lang einem russischen Regime unterordnen als Hunderttausende von Toten und die Zerstörung alles dessen zu riskieren, was in den letzten Jahrzehnten an Werten und Wohlstand aufgebaut wurde. Interessen ändern sich, Regime kommen und gehen, auch Putin wird eines Tages sterben. Vielleicht gelingt es nachfolgenden Generationen in Europa doch noch, Russland „ins Boot zu holen“! Niemand kann die Zukunft voraussehen. Wer von uns hätte je gedacht, dass es zu unseren Lebzeiten zu einer Wiedervereinigung Deutschlands kommen könnte? Auch verbrecherische, autokratische Regime gehen unter, man muss vielleicht nur einen langen Atem haben.

Das wäre es gewesen, was ich den Ukrainern geraten hätte, hätten sie mich gefragt.

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