Kategorie: Buchbesprechung

„Partisan der Geistesfreiheit“

Zum Gedenken an Ernst Topitsch

Während einer durchschnittlichen Studiendauer an öffentlichen Bildungseinrichtungen ist man einigen Einflüssen, positiven wie negativen, ausgesetzt, die auch später noch, wenn man diese Institute schon lange verlassen hat, in einem nachklingen. Zumindest dann, wenn man es geschafft hat, sich wenigstens eine geringe Portion von Selbstreflexion anzutrainieren. Einer dieser ganz gravierenden, um nicht zu sagen prägenden Einflüsse, die meine Gedanken bis heute nachhaltig und wie ich meine positiv beeinflussen, verdanke ich Karl Acham, den ich an der Karl-Franzens-Universität in Graz, am Institut für Soziologie, als Lehrer erleben durfte. Seine Scharfsichtigkeit und ungetrübte Kritikfähigkeit gründeten und gründen sich auf ein unerschütterliches Fundament, das man im positivst – humanistischen Sinn als „umfassende Bildung“ bezeichnen kann. So es jemals so etwas gegeben haben mag, was Karl Mannheim als „freischwebende Intelligenz“ bezeichnet hat, so träfe das für die Geisteshaltung Karl Achams wohl ebenso zu, wie es für Ernst Topitsch – um den es im Folgenden gehen wird – zu behaupten angebracht wäre.

Es war ein Glücksmoment, der mir – wenn ich mich richtig erinnere – im Jahr 2013 beim Durchstöbern der Online-Ausgabe der Wiener Zeitung einen Artikel Karl Achams zur Kenntnis brachte, der dem Andenken eines bedeutenden Philosophen, der zudem an der Grazer Universität wirkte, gewidmet war. Es geht um einen außerordentlichen und äußerst umstrittenen Mann, dessen Bücher jedem kritischen Geist für das eigene Wachstum reichlich Nahrung bescheren. Da meine persönlichen Begegnungen mit dem hier Vorgestellten, tatsächlich nur „Begegnungen“ im wahrsten Sinn des Wortes: solche im Vorübergehen waren, ich durfte ihn leider nie als Lehrer erleben, beschränke ich mich darauf, einige Gedanken aus Karl Achams Text – wenn auch verkürzt und weniger elegant, als er es zu formulieren wusste, aufzunehmen und darzustellen.

Ernst Topitsch, um den es hier gehen soll, war ein international anerkannter Geistes- und Sozialwissenschaftler, der von verschiedensten weltanschaulich-politischen Lagern negativ (und damit wohl auch höchstwahrscheinlich grundfalsch) beurteilt wurde. Einmal galt Topitsch seinen Gegnern als „gefährlicher Marxist“, wie der katholische Existenzphilosoph Gabriel Marcel bei den Alpacher Hochschulwochen 1957 meinte, dann stand er den einen zu „rechts“, (vielleicht deswegen, weil er auch in der „Aula“ publizierte, siehe Wikipedia) dann war er bloß zu konservativ. Während die einen ihn für einen Marxisten hielten, wurde er von sowjetischer Seite als „feiger Nihilist des heroischen Positivismus“ bezeichnet. Zur Zeit der sogenannten Studentenrevolte hielt man ihn für „reaktionär“, und nicht zuletzt fand er auch noch Eingang in das „Handbuch Rechtsextremismus 1993“. „Es waren wohl die Blockwarte der geistigen Observanz, die ihm nicht nur zuwider, sondern auch so zugetan waren, dass er 1995, im Zusammenhang mit den Brief- und Rohrbombenattentaten der später als Franz Fuchs enttarnten „Bajuwarischen Befreiungsarmee“, eine polizeiliche Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen musste.“, schreibt Karl Acham, unter dem Titel “Partisan der Geistesfreiheit“ in seinem Aufsatz.

Diese Angriffe, die Topitsch von allen Seiten bedrängten, machen ihn für mich nicht nur interessant, sondern sogar liebenswert. Insofern fühle ich eine geistige Verwandtschaft zu ihm, ohne mich vergleichen zu wollen, Topitsch war ein brillanter Denker und ein Wissenschaftler von internationalem Rang. Er veröffentlichte 14 Bücher und rund 150 Aufsätze.

Besonders eindrücklich die Sammlung „Studien zur Weltanschauungsanalyse“ (1996). Er selbst hielt die letzte Version seines Buches „Erkenntnis und Illusion“ (1988) für seine bedeutsamste Publikation; für andere liegen seine Stärken eher in der Sozialphilosophie (siehe „Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft“, 1971) und Ideologiekritik (Gottwerdung und Revolution“, 1973).

Acham meint, Topitsch sei nach eigenem Bekunden besonders durch die Schriften und geistigen Haltungen von Thukydides, David Hume, Vilfredo Pareto und Max Weber beeinflusst gewesen. Wegweisend seien für ihn auch Freuds Analysen von Kultur und Religion so wie die Beschäftigung mit dem Logischen Empirismus und der genetischen Erkenntnistheorie von Konrad Lorenz.

Vor allem seine Arbeiten in den frühen 1950er Jahren über das Naturrecht und den Historismus haben Topitsch in heftige Diskussionen verstrickt.

So bedienen sich, wie Topitsch in seinem berühmten Aufsatz „Über Leerformeln“ (1960) etwa am Begriff „Dialektik“ oder „Ganzheit“ zeigt, mehrere einander bekämpfende Gruppen sogar der gleichen Prestigewörter, welche dann oft, gemeinsam mit pseudotheoretischen Erklärungen, eine bedeutende Rolle im politischen Leben zukommt. Das begrifflich und theoretisch vielfach unbestimmte Schrifttum von Hegel wird dabei von ihm gleichermßen kritisch in Betracht gezogen wie einige hochgradig alerte Wendungen bei Karl Marx, Ernst Bloch, Jürgen Habermas und Carl Schmitt,[…].“

Vor allem eine seiner letzten Publikationen „Stalins Krieg“ (1985, 1998), in der Topitsch darstellte, dass es sich im Jahr 1941 um einen Zusammenprall zweier Stoßrichtungen totalitärer Eroberungspolitik handelte, wobei der eine Aggressor dem anderen um eine nicht sehr große Zeitdifferenz zuvorgekommen ist, hatte „statt ernsthafter Diskussion oft nur höhnische und auch hasserfüllte Reaktionen zur Folge. […] Diese Darstellung der Sachlage kommt in den Augen bestimmter Vertreter der Zeitgeschichteforschung geradezu einem Sakrileg gleich.

Das Abweichen seiner Forschungsergebnisse vom „historischen Grundkonsenstrug maßgeblich dazu bei, dass Topitsch einen Teil seiner Publikationsmöglichkeiten verlor. Topitsch blieb sich aber dennoch treu und „sah es als eine Sache der intellektuellen Redlichkeit an, „die Illusionisten aufzuklären, die Hypokriten zu entlarven, die präsumptiven Opfer zu warnen und so die Freiheit zu schützen.“

Es ist für jeden kritischen Geist überaus lohnend, so sei abschließend festgehalten, sich intensiv und ernsthaft mit den Forschungsergebnissen von Ernst Topitsch zu beschäftigen; man muss ihm ja nicht überall kritiklos zustimmen, was ihm auch nie gefallen hätte; aber einen offenen Geist vorausgesetzt, wird man dabei in jedem Fall eine Fülle von Erkenntnissen gewinnen, die das eigene Bild ungemein zu bereichern im Stande sind. Als mein Lieblingsbuch darf ich „Überprüfbarkeit und Beliebigkeit, Die beiden letzten Abhandlungen des Autors“, Herausgegeben von Karl Acham, Böhlau, 2005, empfehlen. Keinesfalls sollte man sich leichtfertig und ohne sich ein eigenes Bild zu machen, jenen Meinungen anschließen, die Ihn als „Rechtsextremisten“ abstempeln, um sich nicht mit seinen Thesen auseinandersetzen zu müssen. Das wird weder seinen Leistungen gerecht, noch dem, was man als Versuch einer objektiven Wissenschaftlichkeit im Sinne Max Webers verstehen sollte.

PS.: Die kursiv gestellten Textteile sind Zitate aus dem oben erwähnten Aufsatz von Karl Acham, seit 2008 emeritiert, er lehrte Soziologie und Philosophie an der Univ. Graz, hatte zahlreiche Gastprofessuren im Ausland und ist Träger des Österr. Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst

Große Gesellschaften sind gefährlich?

Große Gesellschaften sind gefährlich?

 

Buchbesprechung: Leopold Kohr, „Das Ende der Großen“, Zurück zum menschlichen Maß, Otto Müller Verlag, 4.Auflage, Salzburg-Wien, 2017

Kohr vertritt die Ansicht, dass alle Gesellschaften, die ein bestimmtes Maß von Größe und Dichte überschreiten zu „gefährlichen Gesellschaften“ werden.
Bei allen Sympathien, die ich sonst Kohrs Vorliebe für kleine Einheiten entgegenbringe, scheint mir diesmal sein theoretischer Bogen etwas „überspannt“.

Einige aussagekräftige Zitate seien an den Beginn gestellt:

„Eine übervölkerte Gesellschaft ist daher sogar in einem Stadium relativer Ruhe voll von inhärenten Gefahren.“ (75)

Dies geschieht nicht, weil größere Städte proportional mehr schlechte Menschen beherbergen als kleinere, sondern weil ab einem gewissen Punkt die soziale Größe selbst zum hauptsächlichen Kriminellen wird. Es gibt auf der ganzen Welt keine Menschenmenge, die sich nicht im Nu in ein Wolfsrudel verwandeln könnte, so heilig ihre ursprünglichen Absichten auch waren.“ (76)

„Wie die Gesellschaft und mit ihr die Macht wächst, so wächst auch ihr korrumpierender Einfluß auf den Geist.“ (77)

Kritische Größe – Dichte und Geschwindigkeit

„Im Einschätzen der kritischen Größe einer Gesellschaft ist es jedoch nicht ausreichend, nur im Sinne der Größe ihrer Bevölkerung zu denken. Ihre Dichte (die Beziehung der Bevölkerung zum geografischen Areal) und die Geschwindikeit (die Widerspiegelung des Ausmaßes ihrer zu verwaltenden Organisationen und ihres technisches(n) Fortschrittes) müssen ebenso ins Kalkül gezogen werden.“ (81)

„Wenn also kritische Macht die direkte Ursache sozialer Bösartigkeit ist, dann können wir sagen, daß kritische soziale Größe, der Urboden für das Anwachsen kritischer Macht, ihre letztendliche primäre Ursache ist. (81)

„Die prinzipielle Ursache regelmäßig wiederkehrender Ausbrüche von Massenkriminalität und der damit verbundenen moralischen Abstumpfung selbst innerhalb großer Teile der zivilisierten Gesellschaften liegt anscheinend nicht in einer falschen Führung oder in einer korrupten Philosophie, sondern in einem rein physischen Element. Dieses Element ist mit Anhäufung und Anzahl verknüpft, die eine intensivierende Wirkung ausüben…[…] (S.80)

„Wir müssen die Größe von Gemeinschaften wie jener von Chicago auslöschen.“ (83)

„Ist nämlich sozial erzeugte Brutalität (auf individueller oder auf Massen-Ebene) meist nichts anderes als das spontane Resultat des kritischen Volumens der Macht,das immer erzeugt wird, wenn die menschliche Masse eine gewisse Größe erreicht hat, […] (82)

Davon, dass man Kriminalität durch einen verstärkten Sicherheitsapparat durch Ausbau von Überwachungsinstrumenten beherrschen könne, davon hält Kohr wenig.

In großen [ sozialen Einheiten] ist dies allerdings schwierig und gefährlich. Schwierig, weil die Geschichte gelehrt hat, daß soziale Kettenreaktionen in massiven Gesellschaften ganz unerwartet einen Grad erreichen können, der von keiner Polizei der Welt eingedämmt werden kann.“ (82)

Das alles klingt nicht unplausibel. Die Zweifel wachsen aber, wenn man seine These mit der objektiven Daten der Wirklichkeit vergleicht.

Der Spiegel online, vom 2.1.2017 schreibt:

„Im vergangenen Jahr sind in Chicago so viele Menschen umgebracht worden wie seit fast 20 Jahren nicht. Mehrere Medien berichteten unter Berufung auf Polizeistatistiken, es habe 2016 insgesamt 762 Morde in der Stadt gegeben. Das entspricht einem Anstieg von fast 60 Prozent, verglichen mit 2015. (Einwohner 2014 und 2015 ca, 2,7 Millionen, diese Zahl ist seit 2010 etwa konstant)“

Wie würde wohl Kohr diesen Anstieg mit seiner Theorie erklären?

„In Chicago werden jedes Jahr mehr Menschen getötet als in New York und Los Angeles zusammen, obwohl jede der anderen beiden Städte mehr Einwohner hat als Chicago mit seinen 2,7 Millionen Menschen.“

Anmerkung:

„Die Arbeitslosigkeit unter den Afro-Amerikanern in Chicago liegt bei 14,2 Prozent – das ist fast doppelt so hoch wie der landesweite Durchschnitt von rund acht Prozent für diese Bevölkerungsgruppe. Und auch dieser ist weit höher als die allgemeine US-Arbeitslosenrate von derzeit 4,9 Prozent.“

„Gleichzeitig wächst bei vielen Beamten der Frust. Wegen fehlender gesetzlicher Grundlagen könnten Verdächtige bei illegalem Waffenbesitz lediglich wenige Tage festgehalten werden, klagen sie. (Der Tagesspiegel)“

Ein Vergleich:

Singapur (5,5 Millionen Einwohner, doppelt so viele wie Chicago) hatte 2015 eine Mordrate von 0,2 pro 100.000 Einwohnern. – hochgerechnet auf 2.7 Millionen Menschen ergäbe das insgesamt 5,4 Morde pro Jahr

Buenos Aires: Mordrate von 6 pro 100.000 Einwohnern, hochgerechnet auf 2. 7 Mill. – 162 Morde pro Jahr

Auch der Vergleich zwischen Wien und Graz würde Kohrs These nicht bestätigen

Einwohnerzahl Wien 2017 1,7 Mill., 20 Morde, 1.2 pro 100.000 Einwohner (Wien hat mehr als 6 mal so viele Einwohner wie Graz.)

Einwohneranzahl Graz 2017: 282.000, 9 Morde (um 5 mehr als 2016) = 3 pro 100.000 Einwohner (Ausreißer) bei einem Schnitt von 5 = 1,77 pro 100.000 Einwohner

Der Befund Kohrs und sein Hinweis auf die „kritische Größe“ scheint sich durch diese Statistik jedenfalls nicht (so ohneweiteres) bestätigen zu lassen.

Die Ansicht, dass es Völker gäbe, die eher zu Kriminalität neigen als andere, wird als tragfähige Theorie heute auch kaum mehr in Frage kommen.

Aber auch eine Theorie zu kreieren, die die „soziale Verelendung“ in Form von aggressiver Kriminalität monokausal auf die Größe und Dichte eines Gemeinwesens zurückzuführen versucht, scheint wie sich zeigt wenig ergiebig.

Man wird aber doch davon ausgehen können, dass für kriminelles abweichendes Verhalten bis zu einem gewissen Grad (eine Zahl zu nennen, wäre unseriös) auch „genetische Dispositionen“ eine Rolle spielen könnten. „Affekte“ werden nicht in jedem Menschen gleichstark zur Oberfläche drängen;  und auch die sozial erlernte Fähigkeit, sie im Zaum zu halten, wird von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark erlernbar sein oder auch erlernt worden sein. Zum überwiegenden Teil aber wird sich die Frage, warum jemand kriminell wurde, auf auf einen vielfältigen Mix von genetisch bedingten und sozial bedingten Faktoren zurückführen lassen.

Man kann davon ausgehen, dass in jedem Menschen Aggressivität und Gewaltimpulse oder Impulse zu sozial abweichendem Verhalten grundgelegt sind. Die Frage, welche Faktoren dazu führen, dass Menschen in manchen Gesellschaften besser als andere in der Lage sind, diese Impulse erfolgreich zu kontrollieren, bleibt – wenn man nicht bereit ist, Kohr zu folgen, leider unbeantwortet.

Leopold Kohrs Versuch, es den Naturwissenschaften gleichzutun und abweichendes menschliches Verhalten mit einem einzigen allgemeingültigen „Gesetz“ zu erklären, scheint mir nicht zielführend.

Vielleicht sollte man das Augenmerk solcher Untersuchungen darüberhinaus auch darauf richten, wie groß Täter die Chancen in den einzelnen Städten einschätzen, Verbrechen nicht nur erfolgreich auszuführen, sondern auch nach der Tat unentdeckt zu bleiben. Vielleicht sagen objektive Größen wie „Stärke des Sicherheitsapparates, die Aufklärungsquote und die Höhe der Strafandrohung doch mehr aus, als die Größe und Dichte einer Stadt?

Andere Autoren führen diese Erscheinungen, die Kohr unter dem Stichwort „soziale Verelendung“ führt, auf die „Ungleichverteilung von Einkommen und Eigentum“ zurück. Darauf soll hier aber nur mit einer abschließenden Randbemerkung eingegangen werden.

Welche Rolle spielt die Ungleichheit?

„In Japan besitzen die reichsten 20 Prozent nur knapp vier Mal so viel wie die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung.“

Für Japan wird ein signifikanter Rückgang von Gewaltdelikten festgestellt. Im Jahr 1954 wurden noch 3081 Mordfälle gezählt.
Für 2017 hingegen nur mehr 896 Fälle.  Die Bevölkerungszahl ist zwar in den letzten Jahren rückläufig, dennoch kann man im 20. Jahrhundert von einer Bevölkerungsexplosion sprechen.

Einwohnerzahl Japan: 1960: 92,5 Mio. ; 2010 127 Mio. Einwohner

„In 896 Fällen handelt es sich um Mord oder versuchten Mord. Es ist erst das dritte Mal seit Kriegsende, dass diese Zahl unter die Schwelle von 1000 gefallen ist. In einem Land mit knapp 127 Millionen Ein- wohnern ist dies eine fast verschwindend kleine Zahl, auch wenn das japanische Fernsehen in seinen Nachrichten-sendungen gerne ein anderes Bild zeichnet.“ (asienspiegel, Jänner 2017)

„In Singapur und in den USA verdienen die reichsten 20 Prozent rund neunmal so viel wie die ämsten 20 Prozent.“
Dennoch unterscheiden sich die Kriminalstatistiken der USA und die von Singapur signifikant. In Singapur herrscht eklatante Ungleichheit, bei geringer Kriminalität, eine noch geringere als in Japan, in den USA eklatante Ungleichheit bei extrem hoher Kriminalität

(Vgl. Richard Wilkinson und Kate Pickett, Gleichheit ist Glück, Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. 3.Auflage, Tolkemitt Verlag, Berlin 2009)

„Ungleichheit“ bietet also als Erklärungsfaktor auch nicht ausreichend Potenzial.

Bezüglich seiner „mikro-soziologischen Erklärungskraft“ bin ich zugegebenermaßen etwas enttäuscht; man wird sehen, was das Buch in Hinblick auf die „makro-soziologische Ebene“ noch zu bieten hat. Einstweilen gilt:

„Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zu vor!“

Egon Friedell – Kulturgeschichte der Neuzeit

egon-friedellEgon Friedell bietet auf etwas mehr als 1.500 Seiten einen ungewohnt anderen Zugang zur Historie. Nicht um Fakten geht es in erster Linie, nicht um chronologisch geordnete Herrscher- und Dynastiengeschichte, sondern um zeittypische Merkmale von geschichtlichen Perioden, um Erscheinungsformen des Zeitgeistes und ihre Auswirkungen auf einzelne Personen, die wir heute als Proponenten ihrer Zeit sehen. Immer schon haben „großen Geister“ ihre Zeit beeinflusst, wenngleich diese in gewissem Maß immer auch auch Kinder ihrer Zeit waren. Um diese Wechselwirkung geht es. Friedell spannt große historische Bögen; nicht das Einzelne, das Einzelereignis ist ihm wichtig, es sind die Zusammenhänge und  die gegenseitige Beeinflussung von Einzelperson und Zeitgeist, von sozialen Verhältnissen und Kultur, von Religion und Philosophie. Er beschreibt die „Stimmung“, ohne das Faktum aus dem Auge zu verlieren.

Ein Buch, das einen gefangen nimmt, einem aber nicht selten viel an historischen Vorkenntnissen abverlangt. Vor allem aber ist es ein Buch, das sprachlich ungeheuer viel zu bieten hat.

Egon Friedell

 „Geboren am 21.1.1878 in Wien, zweimal in Österreich und zweimal in Preußen maturiert, beim viertenmal glänzend bestanden. In verhältnismäßig kurzer Zeit in Wien zum Doktor der Philosophie promoviert, wodurch ich die nötige Vorbildung zur artistischen Leitung des Kabaretts ‚Fledermaus’ erlangte.“[1]

1916 ließ er seinen Familiennamen „Friedmann“ amtlich in „Friedell“ ändern, nachdem er zuvor des Öfteren schon den Künstlernamen „Friedländer“ benutzt hatte. 

Am 16. März 1938 erschienen gegen 22 Uhr zwei SA-Männer vor Friedells Wohnung und fragten nach dem „Jud Friedell“. Einigen Quellen zufolge sollte Friedell bei diesem „Besuch“ der SA noch nicht verhaftet werden. Friedell erwartete jedoch seine Verhaftung. Während sie mit seiner Haushälterin sprachen, nahm er sich das Leben, indem er aus einem Fenster der im 3. Stock gelegenen Wohnung sprang. Verbrieft ist, dass er dabei nicht verabsäumte, die Passanten umsichtig mit dem Ausruf „Treten Sie zur Seite!“ zu warnen. (Wikipedia)

„Die berühmte Kulturgeschichte der Neuzeit von Egon Friedell erschien erstmals 1927 bis 1931 in drei Bänden. Das monumentale Werk, das hier in einer einbändigen Sonderausgabe vorliegt, stellt die kulturelle Entwicklung des westlichen Menschen vom Beginn der Renaissance bis zum Ersten Weltkrieg dar. Er verfolgt über Jahrhunderte die Strömungen, die für die Neuzeit bestimmend wurden, erzählt die wichtigsten geistigen, politischen und sozialen Entwicklungen und stellt in packenden Portraits die entscheidenden Persönlichkeiten vor. Das Werk wurde ein großer Erfolg und wurde in zahlreiche Fremdsprachen übersetzt.“ (Klappentext)

„Die Darstellung besitzt spielerische Leichtigkeit, bezwingenden Charme, der das Publikum seit Jahrzehnten verführt. Zauber des Schriftstellers Egon Friedell: Wir gehen ihm mit Vergnügen auf den Leim, ohne uns je düpiert zu fühlen.“ (Ulrich Weinzierl, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

„Friedells Kulturgeschichte liest sich dank seiner literarischen Gestaltungskraft wie ein spannender Roman.“ (Neue Zürcher Zeitung)

Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Die Krisis der Europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, 3. Auflage der Sonderausgabe, C.H.Beck, München 2012

Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten

Sarah Wagenknecht, Reichtum ohne GierSahra Wagenknecht

Reichtum ohne Gier“

Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten

Campus, Frankfurt am Main 2016

Sahra Wagenknecht ist promovierte Volkswirtin und Politikerin, seit Oktober 2015 Vorsitzende der Linksfraktion im Deutschen Bundestag. Von 2010 bis 2014 war sie Stellvertretende Parteivorsitzende, von 2004 bis 2009 Abgeordnete im Europäischen Parlament.

Es ist Zeit, den Kapitalismus zu überwinden. Wir leben in einem Wirtschaftsfeudalismus, der mit freier oder sozialer Marktwirtschaft nichts zu tun hat. Und die Innovationen, die uns bei der Lösung wirklich wichtiger Probleme weiterbringen, bleiben aus. Wie kann es sein, dass vom Steuerzahler finanzierte technologische Entwicklungen private Unternehmen reich machen, selbst wenn diese gegen das Gemeinwohl arbeiten?

Wir müssen Talente und echte Leistung belohnen und Gründer mit guten Ideen fördern, sagt Wagenknecht.

Mit glasklarer Analyse und konkreten Vorschlägen eröffnet sie die politische Diskussion über neue Eigentumsformen und zeigt, wie eine innovative und gerechte Wirtschaft aussehen kann. (Klappentext)

Besonders auffällig ist die Tatsache, dass Frau Wagenknecht sich nicht, wie man es von einer LINKEN üblicher weise erwarten würde, dafür ausspricht, Betriebe in Staatseigentum überzuführen und ein marxistisches Wirtschaftssystem zu etablieren. Auch keine strikte Ablehnung des Privateigentums wird man ihr nachweisen können. 

Im Gegenteil: Sie spricht sich vehement dafür aus, die Einzeleigentümer von Klein- und Mittelbetrieben zu stärken, sie anerkennt aber auch die innovativen Leistungen von Großunternehmen, so sie noch in Bereichen der Produktion tätig sind und von persönlich haftenden Eigentümern geführt werden. Sie anerkennt also vor allem jene Unternehmerpersönlichkeiten, die für ihren Geschäftserfolg mit ihrem gesamten Eigentum haften. Ihre Angriffe richten sich in erster Linie gegen spekulative Finanzkapitalisten und jene Unternehmen, deren Eigentümer ausschließlich mit ihrer Einlage und nicht mit dem Privatvermögen haften. Gegen jene also, die ihre Kapitalkraft und damit das Unternehmen und die für das Unternehmen tätigen Personen für die eigene Profitmaximierung benützen, ohne den dort aktiv tätigen Personen einen gerechten Anteil am Betriebserfolg zuzugestehen.

Einer ihrer Vorschläge zielt darauf ab, das Eigentum an den Unternehmen nicht an außenstehende physische oder juristische Personen zu binden, was das Recht auf Veräußerung oder auch Vernichtung des Eigentums beinhalte, sondern das Unternehmen selbst zum Eigentümer des Betriebsvermögens zu machen. Diese Form unterscheidet sich aber grundsätzlich von den ähnlich strukturierten Genossenschaften. Bei der von Wagenknecht vorgeschlagenen Variante wird die direkt im Betrieb arbeitende Belegschaft, also nur die am Betriebserfolg beteiligten Personen, am erzielten „Erfolg“ beteiligt. Am Unternehmensvermögen selbst ist die „Belegschaft“ nicht beteiligt. Tritt jemand aus dem Unternehmen aus, kann er daher keine Unternehmensanteile „mitnehmen“. Dies würde natürlich auch Kollektivverträge überflüssig machen, da die Höhe der auszuschüttenden Löhne von allen im Unternehmen beschäftigten Personen innerhalb des Unternehmens ausgehandelt werden muss. Es gibt grundsätzlich „Leistungslöhne“, die abhängig von Qualifikation und Aufgabenbereich variieren können. Darüber hinaus hängt die Höhe des Lohns aber auch vom Betriebserfolg ab. Erzielt das Unternehmen nur einen geringen Betriebserfolg, gibt es für alle anteilsmäßig weniger Lohn, ist der Gewinn höher, gibt es mehr Lohn.

Eine Verfechterin marxistischer Planwirtschaft zu sein, wird man Frau Wagenknecht nach diesem Buch jedenfalls nicht mehr zuschreiben können.

Wagenknechts Bestandsaufnahmen und politische Diagnosen sind wohl weitgehend zutreffend, wie man es von dieser klarsichtigen und redegewandten Politikerin ohnehin gewohnt ist. Die verkrustete österreichische Polit-Elite, aber auch Österreichs Linke – so es sie gibt -, könnte eine Politikerin ihres Schlages dringend gebrauchen.

Ein informatives, lesenswertes Buch für alle politisch interessierten Zeitgenossen.

Reich und Arm

StiglitzJoseph Stiglitz

Reich und Arm

Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft

Siedler Verlag, München 2015

Englischsprachige Originalausgabe:

„The Great Divide. Unequal Societies and What We Can Do About Them“, W.W.Norton&Company, New York 2015

 

….. ist ein Buch, das nicht nur den Kapitalismus und die ungerechten Zustände der amerikanischen Gesellschaft kritisiert, sondern auch die weltweite Ungerechtigkeit anprangert, deren Ursache nach Stiglitz vor allem in der disharmonischen Ausgestaltung von Wettbewerbsbedingungen zu suchen ist. Stiglitz kritisiert die Auswirkungen der Machenschaften der Hochfinanz und er kritisiert den Kapitalismus an sich, der seiner Ansicht nach die Form eines „Ersatzkapitalismus“ angenommen hat. Ein „Ersatzkapitalismus“ sei entstanden, mit unvollständiger Informationslage und der Abwälzung von Umweltschäden (verschleierte Produktionskosten) auf die Allgemeinheit. Und er kritisiert den Wettbewerb. Er  kritisiert aber nicht ein Zuviel an Wettbewerb, sondern ein Zuwenig.

In dieser Beziehung könnten ihm wohl auch einige seiner ideologischen Gegner aus dem neoliberalen Lager zustimmen, wären da nicht andere einem unbeschränkten Liberalismus gegenläufige Tendenzen zu erkennen, wie etwa der Zweifel an der „Trickle-Down-Theory“ und dem damit einhergehenden Grundsatz „a rising tide lifts all boats“.

So gesehen könnte es ein durchaus interessantes Buch sein, bedauerlicherweise ist es aufgrund seines Aufbaues ein über weite Strecken repetitives, in dem sich für den informierten Leser zu viele Redundanzen finden lassen. Dass sich diese seiner „Machart“ verdanken ist offenkundig;  handelt es sich doch um eine Sammlung von Aufsätzen, die Stiglitz im Laufe der Jahre für unterschiedliche Print-Medien schrieb. Dass diese Aufsätze nun als Buch vorgelegt werden, wird – so bleibt zu hoffen – nicht einem ausschließlich finanziellen Interesse zu schulden sein, sondern einem editorischen.

Es ist allein deswegen zwar noch kein uninteressantes Buch, aber eines, das man aus den genannten Gründen, so man nicht zu den ganz geduldigen Lesern gehört, spätestens nach einhundertsechzig Seiten nur mehr kursorisch zu lesen beginnt. Um so mehr als ähnliche Thematiken, wie sie Stiglitz behandelt, vielfach abgehandelt wurden – im Besonderen in dem 2009 von Richard Wilkinson und Kate Pickett veröffentlichten Band „The Spirit Level. Why More Equal Societies Amost Always Do Better“, der im selben Jahr unter dem deutschen Titel „Gleichheit ist Glück, Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ veröffentlicht wurde. Wilkinson und Pickett legen, im Gegensatz zu den für das hier besprochene Buch gesammelten Aufsätzen, zahlreiche Beispiele und umfangreiches statistisches Material vor, mit dem der Nachweis zu erbringen versucht wird, dass Gesellschaften, die sich dazu durchringen können, all zu große Ungleichheiten durch politische Regelungen des Ausgleichs zu verhindern, nicht nur aus ethischen Gesichtspunkten heraus, sondern auch aus ökonomischer Sicht betrachtet, die besseren Gesellschaften sind.

Daten in der Ausführlichkeit wie sie Wilkinson und Pickett liefern, bleibt Stiglitz größtenteils schuldig.

Für jene, die sich intensiver mit den Auswirkungen von „Un-Gleichverteilung“ beschäftigen wollen, sei auch auf das vom österreichischen Autor Christian Felber im Jahr 2010 im Paul Csolnay-Verlag erschienene Buch „Gemeinwohl-Ökonomie, Das Wirtschaftsmodell der Zukunft“ verwiesen. Inwieweit man den hier erhobenen Forderungen nach verordnetem Vermögensausgleich und der unvermeidlich damit einhergehenden in unseren Breiten meist über die Steuerbelastung geregelten Einkommensbegrenzung zuzustimmen gewillt ist, ist nicht allein eine Frage der Nützlichkeit in Hinblick auf den reibungslosen Ablauf gesellschaftlichen Zusammenlebens, es ist in größerem Ausmaß wohl eine Frage der persönlichen Vorliebe, der politischen Haltung zu Fragen des Eigentums, zu Fragen der persönlichen Freiheit und Eigenverantwortung, bzw. zu der über allem stehenden Frage, welches Gesellschaftsmodell man bevorzugt unterstützen will; darüber hinaus wird die Zustimmung zu den hier vertretenen Thesen oder deren konsequente Ablehnung auch davon abhängen, ob man eher eine kollektivistische, eine kommunitaristische oder doch eher eine individualistische Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse präferiert.

Vielleicht ist auch das der Grund, weshalb Stiglitz hin und wieder versucht, sich  mit Relativierungen aus der „Affäre“ zu ziehen:

„Wir müssen den Kapitalismus nicht abschaffen, wir müssen nur die Marktverzerrungen des „Ersatzkapitalismus“ beseitigen. Das hat weniger mit Ökonomie als mit Politik zu tun. Wir müssen uns nicht zwischen Kapitalismus und Gerechtigkeit entscheiden. Wir müssen uns für beide entscheiden.“

Ach, wäre es doch so einfach!

 

 

 

 

Charlie versus Mohammed, Plädoyer für die Meinungsfreiheit

Charlie versus Mohammed, Plädoyer für die Meinungsfreiheit

Charlie vs MohammedWie könnte man ein neues  Jahr besser beginnen als mit einem guten Buch?

Ein Buch, das man, ebenso wie seinen etwas umfangreicheren Vorgänger: Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf ?“, guten Gewissens allen jenen empfehlen kann, die an der aktuellen Debatte rund um den Themenkomplex „Islam und sein Verhältnis zu den offenen Gesellschaften des Westens“ interessiert sind. Die Lektüre dieser an Umfang schmalen, aber an belegten Argumenten reichen Ausgabe, wird die  öffentliche Diskussion in jedem Fall bereichern.

Im Fokus dieser neuen Streitschrift stehen  die traurigen Ereignisse rund um die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo  und einen jüdischen Supermarkt im Paris des 7. Jänner 2015. Diese Anschläge, die Attentate islamistischer Terroristen davor und jene, die ihnen nachfolgten, haben das Thema „Meinungsfreiheit und ihre Grenzen“ neben dem der „Flüchtlingskrise“ zu einem die öffentliche Diskussion beherrschenden gemacht. Allein das garantiert dem Buch einen großen Kreis von Interessenten.

Und das ist gut so, denn das Buch ist nicht nur gut lesbar geschrieben und informativ, es kratzt auch an vielen Tabus, etwa dem der rechtlichen Sonderstellung der Religionen in unseren Rechtsordnungen. Diese „Sonderstellung“ gewährt allen jenen Denkgebäuden, so sie einmal als religiös anerkannt wurden, privilegierten Schutz in einem Ausmaß, der ihnen schon lange nicht mehr gebührt. Der kleine Band des Passagen Verlages gibt über diese Erkenntnis hinaus, aber auch einen anschaulichen, wenn doch exemplarisch bleiben müssenden Überblick über die Entwicklung dessen, was man als massiven Versuch der islamischen Religionsgemeinschaften bezeichnen wird müssen, die im Laufe der Geschichte mühsam erkämpfte Meinungsfreiheit in den westlichen Demokratien dauerhaft zu beschränken. Als Mittel dazu dient, so legen die Autoren offen, eine überaus wackelige Rechtsauffassung des Begriffs Religionsfreiheit, die sich auf die „Verletzung religiöser Gefühle“ stützt. Die Autoren zeigen eindrucksvoll, auch für Nicht-Juristen nachvollziehbar, wie wenig tragfähig dieses Argument ist.

Darüber hinaus wird deutlich, auf welche Weise muslimische Organisationen seit Jahren versuchen, die persönliche Freiheit des Einzelnen einschränkend – insbesondere die der Frauen – , ihre  überholten Wertmaßstäbe in Form religiöser Ge- und Verbote für alle Bevölkerungsgruppen in Europa als allgemeinverbindliche Regel in die staatlichen Rechtsordnungen hinein zu reklamieren.

Hilfreich dabei ist nicht zuletzt das Nichtwissenwollen, das Leugnen und Beschönigen dieses Umstandes durch vornehmlich – aber nicht ausschließlich – links-liberale Kräfte, die im vermeintlichen Bestreben diese Gesellschaft offen zu erhalten, durch ihre Koalition mit fundamentalistischen Muslimvereinigungen und deren Gedankengut eine massive Gefährdung der Offenen Gesellschaften heraufbeschwört. Dass dies  gerade durch jene geschieht, die ansonsten die Bewahrung der Vielfalt und Offenheit als Fahne des Bekenntnisses vor sich her tragen, erscheint besonders paradox. 

„Die Ignoranz vieler Menschen gegenüber den problematischen Aspekten des Islam und bestimmten Merkmalen seiner Traditionen lässt Rechtspopulisten und Rechtsradikale als einzige Akteure auf diesem Feld zurück. Diese Ignoranz verdankt sich einer kommunitaristischen Sicht der Gesellschaft, einer Sicht, die nicht die einzelnen Menschen als freie Bürgerinnen und Bürger der Gesellschaft wahrnimmt, sondern nur als Gruppen und Kollektive.“ (S.53) 

Dieses Zitat wurde mit Bedacht gewählt, weil es einerseits zwar inhaltlich ins Schwarze trifft, was den Aspekt der Ignoranz und ihrer Folgen anlangt, andererseits aber deswegen, weil diese Passage eine der wenigen Möglichkeiten bietet, eine Spur von Widerspruch gegen die Autoren zu entwickeln.

Ob es denn tatsächlich, wie die Autoren es sehen, der kommunitaristischen Sicht der Gesellschaft zu verdanken ist oder nicht eher doch – wie ich meine – der kollektivistischen Sicht,  müsste über den Diskurs der inhaltlichen Korrektheit der Begriffe geklärt werden. Mein inhaltliches Verständnis von „kommunitaristisch“ stützt sich im Besonderen auf eine Veröffentlichung von Amitei Etzioni, der im Jahre 1996 ein Buch mit dem Titel: The New Golden Rule, Community an Morality in a Democratic Society, in New York veröffentlichte, das ein Jahr später im Campus Verlag unter dem Titel: Die Verantwortungsgesellschaft, Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, erschien.

„Etzioni plädiert [darin, Anm. d. Autors] für eine soziale Ordnung, die den Gegensatz von individueller Autonomie und sozialer Verpflichtung auflöst.“ (So der Klappentext zur deutschen Ausgabe.)

Als kommunitaristisch wäre demnach ein Gesellschaftsmodell dann zu bezeichnen, wenn ein bestimmter Typus von gesellschaftlicher Einstellung in dominanter Weise zu bemerken ist, der sich eben gerade nicht zu einer totalen Hinwendung zum Kollektiv bekennt, sondern immer auch das individuelle Moment, die persönliche Verantwortung betont, wenn gleich diese immer im Zusammenspiel mit einer der Allgemeinheit gegenüber zu sehen ist. 

„Typisch amerikanisch sei die Betonung der Freiwilligkeit bei der Übernahme von Verpflichtungen und Verantwortung sowie die Rede von einer >moralischen Stimme< im Zusammenhang mit der Forderung, sich bei der Regelung von Konflikten, der Lösung von Problemen oder Überwindung von Notlagen, die in der Gesellschaft auftreten – sei es in der Familie, im näheren sozialen Umfeld oder auch in den Beziehungen sozialer Gruppen – nicht in erster Linie auf den Staat zu verlassen.“ (Amitei Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft, Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, Campus, 1997, S.11) 

Der Befund von Scholz und Heinisch, betont aber die Tatsache, dass hier eine Sicht gewählt werde, die „nicht die einzelnen Menschen als freie Bürgerinnen und Bürger der Gesellschaft wahrnimmt, sondern nur als Gruppen und Kollektive.“ (S. 53) 

Insofern, würde ich meinen, hätte man vielleicht besser nicht von „kommunitaristischer“, sondern doch weiterhin von „kollektivistischer“ Sicht auf die Gesellschaft sprechen sollen. Dies umso mehr, als damit der Begriff „kommunitaristisch“ näher an den Kollektivismus gerückt wird, als ihm eigentlich zugemutet werden sollte.

Dass die Erhaltung eines offenen Gesellschaftsmodells den Autoren am Herzen zu liegen scheint, zeigt sich auch darin, dass  mit Akribie Beispiel an Beispiel der Verharmlosung und Rechtfertigung dessen  aneinander gereiht wird, was man als Untergraben der Meinungsfreiheit, gar als Rechtfertigung von religiös motivierten Morden verstehen könnte;  ob es nun der Falter ist, der ohne zu zögern vor der Ideologie der Mörder der Redakteure von Charlie Hebdo in die Knie ging, ob es Sky, CNN oder Günther Grass war, der sich vielleicht der Schlagzeilen wegen oder auch nur deswegen, um doch wieder einmal auf der Seite des Guten zu stehen, dazu hergab, die Karikaturen zu verurteilen; niemand, nicht einmal der Papst wird verschont.

„Wenn Dr. Gasbarri [gemeint war der Reiseorganisator des Papstes, Anm.], mein lieber Freund, meine Mutter beleidigt, erwartet ihn ein Faustschlag. Denn man kann den Glauben der anderen nicht herausfordern, beleidigen oder lächerlich machen.“ (S.55)

Dass selbst  der Papst nicht sakrosankt bleibt, zeigt, dass die Autoren auch den bedrohlichen Balken im westlichen Auge zu erkennen in der Lage sind.

Ja, es gibt sie, die Allianz des Religiösen! Ein Vorbeischwindeln an den Gemeinsamkeiten religiöser Ideologien lassen die Autoren nicht zu. Die Gefahren religiös-fundierter Gedankenführungsmodi, die im Wesentlichen auf irrationaler, kritikloser Übernahme von Dogmen und weitestgehender Unkorrigierbarkeit eines überlieferten Gedanken-Modells beruhen, werden nach wie vor unterschätzt, auch wenn die Ausformung des dadurch ausgelösten Gefahrenpotenzials unterschiedlich ist, sollten diese Gefahren nicht verharmlost oder gar verschwiegen werden. Wenn man Menschen dazu erzieht zu glauben und dabei verabsäumt, das Jenseits und das Diesseits streng zu trennen, dann werden sie sich nicht nur an diese Art von Welterklärung gewöhnen, sondern diese auch auf viele der „diesseitigen“ Bereiche ausdehnen, in denen diese Art von Erklärung unstatthaft, vielleicht sogar schädlich ist. Der Glaube  an einen allmächtigen Gott und der Glaube an einen allmächtigen Führer sind engverwandte Phänomene. Die christliche Kirche zu zähmen ist den offenen Gesellschaften mit Mühe gelungen, diese Aufgabe steht uns hinsichtlich des Islam jedoch noch bevor. Jede Einschränkung des Rechts der freien Meinungsäußerung, ob sie nun mit lautem Getöse einhergeht oder sich auf den leisen Sohlen der Toleranz und des vorauseilenden Gehorsams  anschleicht, wird unweigerlich einen Beitrag liefern, diese Gesellschaft zu ihrem Nachteil zu verändern.

Das Buch von Nina Scholz und Heiko Heinisch ist ein mutiges Buch, ein informatives Buch und eines, das einen klaren Standpunkt vertritt: Die Grundlage für eine freie Gesellschaft ist das uneingeschränkte Bekenntnis zur freien Meinungsäußerung.

Es ist zwar eine Schande, aber es ist eine Tatsache: Wir sind bereits in Zeiten angelangt, in denen man Autoren, die ihre Thesen freimütig äußern,  schon allein deswegen als „mutig“ bezeichnen muss. In diesem Sinne sei Nina Scholz und Heiko Heinisch gedankt: „Es ist ein mutiges, informatives und wirklich lesenswertes Buch mit logischer Argumentation, das hier vorgelegt wurde. Man kann ihm eine große Leserschaft wünschen!

 

 

 

„Die Autonauten auf der Kosmobahn“

Ein Buchgeschenk,  das sich gegenwärtig mit mir auf Reisen befindet.

Diesem Buch, ein Geschenk meines Freundes Ludwig, dem es mehr und mehr gelingt, meinen mit zunehmendem Alter immer undurchdringlicher werdenden Panzer gegen alles „Freundschaftliche“ erfolgreich zu durchbrechen, schien von Anfang an ein besonderer Platz zu gebühren. Es kam gänzlich unerwartet und es kam so wie selten sonst Geschenke bei mir ankommen: Es kam ohne Vorankündigung mit einem Zustelldienst der Post. Und – es kam  kurz vor dem Besuch des Freundes, der es schließlich als Gastgeschenk präsentierte.

Jedermann weiß, dass es kaum Schwierigeres gibt auf der Welt, als jemandem ein Buch zu schenken und damit auch noch Freude zu bereiten.

Diesem Buch verbunden war zudem das unausgesprochene Anliegen, der Beschenkte möge es nicht nur freudvoll entgegennehmen, er möge es vielmehr auch genussreich lesen und er möge daraus vielleicht sogar Gewinn an Erkenntnis, vielleicht sogar Lebenslust schöpfen. Weitreichende Wünsche also, umso mehr als ich gegen jedes mir geschenkte Buch sofort einmal ein fast unumstößliches Vorurteil aufzubauen bereit bin.

So war es auch bei diesem und ich schien anfangs damit Recht zu haben. Meine durch dieses Buch initiierte Lesereise stellte sich als ein nicht unschwieriges Unterfangen dar: nicht selten war es vom Scheitern bedroht, bedurfte immer wieder neuerlicher Anläufe, erforderte mehrmaliges Vorausschmökern und  wiederholtes “Zurücklesen”, bestand aus Überblättern von Textpassagen und dem intensiven Betrachten der Fotos, wovon ich mir psychologische Rückschlüsse auf die Geistesverfasstheit der Autoren erwartete, um  dann – mir mühevoll Konzentration auferlegend – wieder in den Lesefluss zu gelangen.

Hin und wieder stellte sich dazu noch eine Art von allgemeiner Unzufriedenheit ein und der Vorwurf, darin zuwenig über die wahre, die reale Welt zu erfahren. Nicht selten wurde dieser Eindruck von der haptischen Wohlgefälligkeit der Buchgestaltung wettgemacht. Insofern war es von Anfang an auch ein versöhnliches Buch.

Es bedurfte jedenfalls zahlreicher Anläufe, die, wie ich jetzt ans Ende gekommen zugeben muss, weniger den Einfällen oder den Ideen der Autoren oder gar deren literarischem Unvermögen als meiner Ungeduld, dem mangelndem Einfühlungsvermögen  des Lesers also, zugeschrieben werden müssen.

Wie fast jedem Buch, einmal in die Hand genommen, war auch diesem der Wunsch anhängig, den Ausgang der Geschichte zu erfahren, obwohl dieser irgendwie doch feststand, einerseits: die beschriebene Reise sollte von Paris ausgehend nach Marseille führen, andererseits sagt, wie man weiß, der geografische Wert des Ankommens niemals alles über das Ende einer Reise aus. Zwischen den Orten A und B liegt bekanntlich viel unbekanntes, vielschichtiges Terrain, selbst dann, wenn die Reisenden am Anfang ihrer Reise beschlossen, allein und ausschließlich die Autobahn und nichts als die Autobahn zu ihrem Kosmos zu erklären; noch dazu vom Schwur bestärkt, sie niemals zu verlassen.

Dass, wie auch in diesem Fall, dieses Unternehmen in außerordentlich angenehmer Weise beschrieben worden ist, kann jetzt endlich doch bestätigt werden, auch wenn es lange dauerte, bis sich mir als Leser, die – wenn schon nicht  geheime -, so doch nur zwischen den Zeilen und andeutungsweise versteckte Botschaft eröffnete. Zulange hoffte ich, Freund des gelehrsamen Buches, darauf, plakative Neuigkeiten zu erfahren, bis sich dieser Wunsch endlich der nur schwer akzeptablen Einsicht unterordnete, dass es diesmal um Erkenntnisse jenseits des Plakativen, des „Verwertbaren“ gehen sollte. Es ging darum, zu reisen, ohne irgendwo hinkommen zu wollen. Auch wenn das Ziel Marseille hieß, es war es nicht. Es war eine literarische Expedition ins Innere einer Reise nach nirgendwo, die man als Leser hier genussvoll begleiten darf.

Den Autoren und meinem Freund Ludwig sei Dank für dieses unerwartete Lese-Erlebnis.

„Die Autonauten auf der Kosmobahn“ , Julio Cortàzar & Carol Dunlop, Bibliothek Suhrkamp / Die Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel „Los autonautas de las cosmopista o  Un viaje atemporal Paris – Marsella / © Julio Cortàzar and Carol Dunlop, 1983

 

„Geisterstunde“

„Geisterstunde“

Liessmann

„Das aktuelle Glücksversprechen der Bildung ist ein falsches, weil es dabei weder um Bildung noch um Glück geht. Es geht, wenn überhaupt, um Abrichtung, Anpassung, Zufriedenheit durch Konsum. Was heute unter dem Titel Bildung firmiert, was von Bildungsjournalisten propagiert, was von Bildungsexperten verkündet, was von Bildungsforschern  behauptet, was von Bildungspolitikern durchgesetzt, was an Schulen und Universitäten beworben wird, ist deren Gegenteil und Karikatur, eine Phrase, eine Schimäre, eine einzige riesige Sprechblase, ein Gespenst, das nicht um Mitternacht, sondern zur besten Unterrichtszeit sein Unwesen treibt: Geisterstunde!“ 

 

Beginnt doch vielversprechend! Oder?

Der „Rote Faden“ anhand einiger Zitate:

 

„In Wirklichkeit gibt PISA durch die Konstruktionen seiner Tests einen geheimen Lehrplan vor, der eine Norm darstellt, an der sich Bildungsbemühungen auszurichten haben.“ (14)

 „…[…] Bildungseinrichtungen brauchen aktuell deshalb nicht mehr, sondern weniger Reformen, und auch wenn es paradox klingen mag, sollte generell bedacht werden: In einer sich – angeblich- rasch verändernden Gesellschaft benötigen Bildungssysteme Entschleunigung, nicht Hektik, Besonnenheit, nicht Tempo, Stabilität, nicht permanenten Wandel, Sicherheit, nicht medialen und politischen Dauerbeschuss.“ (29)

 „Bei allen inhaltlichen Differenzen und Widersprüchen: Es gibt einige markante Grundüberzeugungen, die die Bildungsexperten unserer Tage teilen. Fast alle sind gute Rousseauisten, das heißt, sie sind überzeugt davon, dass Neugeborene, Babys und Kleinkinder wunderbare, umfassend kompetente, mehrfach begabte, hochtalentierte und kreative Wesen sind, die allein durch ein antiquiertes Bildungssystem korrumpiert, gebrochen und zerstört werden. (33)

 „Es ist sicher auch sinnvoll, hin und wieder exemplarisch zu erfahren, was es heißt, eine Frage oder ein Problem von Grund auf und unter verschiedenen Aspekten zu bearbeiten. Aber, auch wenn es den Bildungsexperten im Herzen weh tun mag, der Sinn der modernen Schule – neben den ökonomischen Notwendigkeiten – die etwa zu Alphabetisierungsprogrammen geführt haben – bestand und besteht darin, die zentralen Erkenntnisse und Ergebnisse von einigen Jahrtausenden menschlichen Strebens nach Wissen zu bündeln, zu systematisieren und zu vermitteln, um überhaupt erst Grundlagen zu schaffen, auf denen sich jene Kreativität und Originalität entfalten können, von denen alle schwärmen. [ …] Das Rad muss erst dann noch einmal erfunden werden, wenn vergessen wurde, was es damit auf sich hat.“ (40)

 „Wir sind zu feige geworden, um uns noch zu geistigen Inhalten zu bekennen, die einen Wert an sich darstellen und deren Kenntnis und Verständnis jenseits aller aktuellen Bedürfnisse eine Befriedigung zu geben vermag.“ (57)

 

„Aber der Gebildete ist einer, der eine Vorstellung davon hat, was Genauigkeit ist und dass sie in verschiedenen Provinzen des Wissens ganz Unterschiedliches bedeutet.“  (70) 

„Stets geht es um zweierlei: zu wissen, was der Fall ist, und zu verstehen, warum es der Fall ist.“ (76) 

„Neugierde bedeutet, dass sie sich immer auf etwas, einen Gegenstand richtet. Niemand ist neugierig darauf, eine Kompetenz zu entwickeln.“  (76)

 „Die neue Disziplinlosigkeit führt zu einer Verwahrlosung des Denkens und einer Abwertung des Wissens, die nur im Interesse jener sein kann, die kein Interesse an gebildeten Menschen haben, da die Dummheit zu den Fundamenten ihres Geschäftsmodells zählt.“  (76)

 „Wenn eine Universität nicht mehr sein will, als ein Trainingscamp, will sei eben keine Universität mehr sein.“ (104)

Viel Freude mit dem Buch!

Mein Buchtipp: Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?

Mein Buchtipp: Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?

„Islam und Menschenrechte“ – ein – nach wie vor –  „heißes“ Thema.

Heiko Heinisch - Nina ScholzEin Buch wie dieses zu schreiben, ohne in gängige Klischees zu verfallen, ist nicht leicht, vor allem wenn man dabei weder „Multi-kulti-Illusionen“ noch „Fremdenphobien“ bedienen möchte.   Die öffentliche Stimmung ist aufgeladen, nicht zuletzt deswegen, weil  vor so mancher Haustür ethnisch-religiöse, in sich abgeschlossene Subkulturen sprießen. Schon aus diesem Grund ist es dringend notwendig, Integrationsprobleme,  differente religiöse Vorstellungen und unterschiedliche kulturelle Prägungen in einer seriösen Weise zur Sprache zu bringen. Heiko Heinisch und Nina Scholz haben diese Aufgabe mit Bravour gemeistert.

Die Autoren arbeiten in sich abgeschlossenen Kapiteln (Islamophobie, Multikulturalismus, Toleranz, Meinungsfreiheit,……) die historischen Hintergründe der Gegenwartsprobleme in kritischen Analysen und nachvollziehbaren Schlussfolgerungen auf. Dass dies auch noch in einer sprachlich angenehmen, gut lesbaren Form vonstatten geht, die den Text auch dem Laien zugänglich macht, ist nicht selbstverständlich und spricht für sie.

Der vorliegende Band aus dem Jahr 2012 ist zwar nicht mehr ganz  „taufrisch“, ist aber immer noch ein mehr als lesenswertes Buch für alle diejenigen, die sich mit einer oberflächlichen Betrachtung des brisanten Themas auf „Biertisch-Niveau“ nicht zufriedengeben wollen und auch für Schönfärberei in sozialen Belangen wenig übrig haben.

Sichere Gründe und die „schöne“ Literatur

Sichere Gründe und die „schöne“ Literatur

 „Ich brauche keine Bücher für die Insel. Ich habe die Bücher von Karl-Markus Gauß. Sie sind ein sicherer Grund.“ (Robert Menasse über Karl-Markus Gauß)

GaußNun endlich weiß man, was für Robert Menasse ein „sicherer Grund“ ist und darf für ihn hoffen, dass ihn das auf eine einsame Insel verschlagen nicht doch einmal reuen wird.

Es kam bisher sehr selten vor, dass ich mich, von der öffentlichen Meinung beeinflusst, dazu hinreißen ließ, ein bestimmtes Buch zu kaufen. Meine Buchentscheidungen begründen sich für gewöhnlich anders, sie laufen über verschlungene Pfade von Zitierungen und sind meist keine kurzfristigen Liebschaften, sondern langgehegte Lieben, die dennoch nicht selten spontane Erfüllung finden. Diesmal war es anders, ich gebe es zu. Karl Markus Gauß, „Lob der Sprache, Glück des Schreibens“, sein jüngstes Werk war erschienen und gut in Szene gesetzt, daran wollte auch ich nicht vorbeigehen. Umso mehr als der Titel mir aus dem Herzen sprach, wie kaum je ein anderer. Einen Titel, der verspricht etwas Licht in die „sprachliche Finsternis weiter Bereiche der Gegenwartsliteratur“ zu bringen, darf man sich nicht entgehen lassen, dachte ich.

Vor wenigen Tagen, bald nach dem Erscheinen des genannten Bandes also, wurde ich bereits glücklicher Besitzer desselben. Ungeduldig überflog ich, in der Hoffnung endlich zu erfahren, was „gehobene Schreibkultur“ in der Gegenwart bedeutet, einzelne der Beiträge. Eine eilige, oberflächliche Durchsicht des Dargebotenen verdichtete sich alsbald zur ernüchternden Erkenntnis:  „Lob der Sprache“ nennt sich das Werk zwar nicht ganz unverdient, etwas hoch gegriffen hat man dabei doch; „Glück des Schreibens“ nun ja, das mag stimmen. Ein „Geschichtchen“ reiht sich an das andere, alles in leichtem Plauderton gehalten, gefällig, aber meist doch gekonnt vorgetragen. Das also ist höchste Schreibkunst, dachte ich.

Die Enttäuschung ließ allerdings nicht lange auf sich warten. Bereits nach der Lektüre der einleitenden Glosse „Frau Jagger verliert einen Ring“ wich die hoffnungsfrohe Neugier  deprimierender Erkenntnis: der Text endet nach zwei kurzen Seiten in einem sprachlichen Fiasko.

„Ja und Türsteher und Rausschmeißer braucht es natürlich auch, wenn es um richtige Charity geht: Denn herrlich ist es nur, für die Obdachlosen,  nicht mit ihnen zu dinieren.“  

Ja, so eine Charity ist schon ein Greuel, wen juckt es da nicht in den schreibenden Fingern? Wenn aber auch der „elegante Essayist“  Gauß im Charity-Sumpf sprachlich untergeht, tut das dem gerechten Herzen doppelt weh.

Wer diniert hier mit wem, für wen ist es herrlich und für wen nicht? So geht’s, dachte ich, wenn einem in der Hitze des Gefechts der Gegenstand der Betrachtung abhanden kommt.

„Wenn das so ist mit der sprachlichen Sorgfalt, werd’ ich wohl nicht bis ans Ende kommen“, befürchte ich.  Die Versuchung, den „größten Stilisten der Gegenwartsliteratur“ (vgl. Umschlagtext),  sogar gegen die Empfehlung der Experten in die Reihe

„zwar nur teilweise gelesen, aber wenig zu empfehlen“

zu verbannen, ist zugegebenermaßen groß.  Aber vielleicht erwartet mich ja doch noch die eine oder andere positive Überraschung, die das Buch an den Platz rückt, an den es angeblich gehört. Falls es so ist, verspreche ich, mit meinem Lob an dieser Stelle nicht zu geizen.