Kunst und Gesellschaft I

Kunst und Gesellschaft I

 – Von den Anfängen der Kunst und ihren sozialen Gegebenheiten –

Kunst hervorzubringen, so könnte man behaupten, stellt ebenso wie die Bändigung des Feuers eine der wesentlichen Fähigkeiten der Spezies Mensch dar. Gerade im Rückblick auf die prähistorischen Kunstwerke scheint sich diese These mühelos und unabweisbar bestätigen zu lassen. Nicht immer ist alles so wie es scheint. 

1. Die Künstlermagier

Lascaux_04, Liz.-peter80„Die Begründung der schönen* Künste und die Einsetzung ihrer verschiedenen Typen geht auf eine Zeit zurück, die sich eingreifend von der unsrigen unterschied, und auf Menschen, deren Macht über die Dinge und über die Verhältnisse verschwindend im Vergleich zu der unsrigen war.“  Paul Valéry, Pièces sur l’art, Paris, zit. nach Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1. Auflage, Suhrkamp, Berlin, 2010

Während die einen die Auffassung vertreten, jede Kunst sei Ausdruck ihrer Zeit, sie spiegle die Charakteristika der sie begleitenden Zeitumstände wider; eine Auffassung, die nicht selten in der Feststellung kulminiert, die Kunst müsse sich der aktuellen Zeitprobleme sogar ganz besonders intensiv annehmen und so zu deren Lösung beitragen, vertreten deren Antagonisten den Standpunkt, die wahre Kunst habe immer schon einen überzeitlichen, wenn nicht gar überweltlichen Standpunkt eingenommen, blühe stets abseits der aktuellen Ereignisse, müsse sich von zeitgebundenen Strömungen fernhalten, dürfe sich nur an das Ewige verschenken, will sie Bestand haben. Diese Ansichten werden ergänzt von den Vertretern der Avantgarde, die für sich in Anspruch nehmen, die Kunst – dabei aber oft nur sich selbst als Künstler meinen – als ein Phänomen begreifen zu müssen, das von seiner Zeit notwendig unverstanden bleiben müsse und dieser weit voraus sei.

Will man nicht von vornherein einen dieser Standpunkte präferieren, scheint es angebracht, vorerst einen Schritt zurückzutreten und die Reise in die Welt der Kunst mit einem kurzen, imaginierten Besuch bei den Menschen der Frühzeit zu beginnen, also dorthin aufzubrechen, wo wir die ursprünglichsten Anfänge der Kunst vermuten. Kehren wir also gedanklich zu jener Spezies Mensch zurück, die uns die ersten Zeugnisse dessen hinterließ, was über den Status des reinen Werkzeugs, des bloßen Hilfsmittels zur Lebensbewältigung hinausgriff.

Die den reinen Gebrauchswert übersteigende Gestaltung von Gerätschaften reicht weit in das Paläolithikum zurück. Oft handelt es sich um Gestaltungselemente, die bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht als schiere Dekoration erscheinen, aber bei genauer Analyse nicht selten ihre wahre Bedeutung offenbaren.

Zu Zeiten der Jäger und Sammler versuchte man, durch eine möglichst detailgetreue Darstellung des bejagten Wildes und den Vollzug magischer Handlungen, oft sogar durch symbolisch vorgenommene Tötungen, an diesen Darstellungen vollzogen, das real erhoffte Jagdglück zu befördern.

Nur dann, wenn diese Darstellungen bis in die Einzelheiten genau das „Wesen“ des zu erlegenden Tieres erkennen ließen, konnte die Magie ihre volle Wirksamkeit entfalten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass man diese heikle zeichnerische Arbeit bald denjenigen überließ, die fähig waren, besonders überzeugende, besonders realistische Werke zu schaffen, Abbildungen an denen alles „richtig“ war. Man kann begründeter Maßen davon ausgehen, dass es schon zu dieser Zeit eine Art von Arbeitsteilung insofern gegeben hat, als man die besonders begabten Zeichner von den Pflichten des Nahrungserwerbes zumindest teilweise enthob. Diese handwerkliche – und damit magische – Elite als Künstler in unserem heutigen Sinn zu bezeichnen, ihnen gar das zuzuschreiben, was man später dem Genie subsumierte, wäre verfehlt, auch wenn wir in fassungslosem Staunen ihre Meisterwerke bewundern und kein Zweifel daran besteht, dass es sich um einmalige Kunstwerke von universaler Gültigkeit handelt.

04aLascaux2, Quelle Wikipedia

Die paläolithischen Höhlenmaler verstanden sich als Magier, wurden als Zauberer verehrt, waren Menschen, die mit einer ganz speziellen Aufgabe betraut waren: den Geist des Wildes zu beeinflussen, zu besänftigen, zu schwächen, zu bannen.

Überirdische Wesen oder die Vorstellung von Göttern, die auf die Jagd Einfluss hätten, spielten in der Wirklichkeit dieser Menschen noch keine Rolle. Das Paläolithikum stellt somit eine Entwicklungsstufe der Kultlosigkeit dar; geprägt von Todesfurcht, Angst und Hunger trachtete sich der Mensch gegen Entbehrung, gegen Schmerz und Tod durch magische Praktiken zu schützen.

Wie sich anhand der Darstellung der gesellschaftlichen Voraussetzungen der paläolithischen und neolithischen Kunst gezeigt hat, verfolgten die Künstler-Magier der Ur-Zeiten menschlicher Zivilisation mit ihren Darstellungen ganz bestimmte Zwecke. Ihre Aufgabe bestand nicht darin, Kunstwerke hervorzubringen, um des Kunstwerkes willen (l’art pour l’art), ihre Aufgabe bestand darin, mit Hilfe ihrer außerordentlichen bildnerischen Fähigkeiten Objekte der Magie zu schaffen, um auf diese Weise zum Überleben der Sippe beizutragen. Dass es nicht um Kunst um der Kunst Willen ging, glaubt man aus der Tatsache schließen zu dürfen, dass die Abbildungen vielfach gerade an den unzugänglichsten, von Sonnenlicht oft unerreichbaren Stellen der Höhlen ausgeführt wurden und daher dekorative Zwecke wenig wahrscheinlich sind; auch dass die Arbeiten Ausdruck eines individuellen Lebensgefühls, der Wunsch nach Selbstverwirklichung waren – was man doch eher als eine Modeerscheinung der Neuzeit betrachten sollte – scheint unwahrscheinlich. Auch wenn wir die Produkte der paläolithischen Höhlenmalerei heute als Kunst einstufen, wird Kunst, so wie wir den Begriff heute verstehen, für den urzeitlichen Menschen kein Thema gewesen sein. Dies auch dann nicht, wenn es gut begründete Vermutungen dafür gibt, dass es schon so etwas wie Zeichenschulen mit einem spezialisierten “Kunstbetrieb” gegeben haben könnte. In erster Linie ging es zweifellos um Magie, um eine Form von „Beeinflussung“ der natürlichen Abläufe in der Welt, durch streng festgelegte Handlungen, die von bestimmten Personen mit außergewöhnlicher Begabung unter Zuhilfenahme magischer Werkzeuge ausgeführt werden mussten. Deswegen scheint die Einschätzung, die “Höhlenmaler” des Paläolithikums eher als Vorläufer eines Priesterstandes anzusehen, als dass man sie als Urahnen unserer heutigen ”Künstler” sehen sollte, mehr als schlüssig.

Anmerkungen:

1. Wann immer, so hoffe ich eine Klarstellung für jene Einwände anbieten zu können, die die Meinung stützen, „die Kunst“ (als solche) gäbe es gar nicht, es gäbe nur Künstler, Kunstwerke, Museen usw. – wann immer also, im Laufe dieser Betrachtung von „der Kunst“ die Rede sein wird, sollte damit die „Institution Kunst“ gemeint sein, die alles umfasst, was (im weitesten Sinn verstanden) mit dem Herstellen, Präsentieren und Konsumieren von Kunstprodukten (dazu zählt auch alles, was an sich verflüchtigenden Kunstprodukten finden lässt: Musik, Performance etc.), in Zusammenhang zu sehen ist; selbstverständlich auch alle ausgesprochenen und unausgesprochenen der Kunstproduktion implizit zugrunde liegenden Normen und Wertmaßstäbe bzw. auch die zwischen den einzelnen organisatorisch definierten Bereichen bestehenden Relationen.

2. Der Terminus “schöne Künste” geht angeblich auf die Konzeption des Kunsttheoretikers Johann Joachim Winckelmann zurück, der sich auf “edle Einfalt” und “stille Größe” bezog.

Dieser Text ist der erste aus einer Serie von Artikeln, die für die Online-Zeitschrift ART11-Magazine geschrieben und im Frühjahr 2012 dort veröffentlicht werden.

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